Chris Müller: Innovator Mundi
Der charismatische Visionär, Philanthrop und Vorreiter des Digitalen Humanismus in Österreich im Gespräch.
© Antje Wolm
Chris Müller ist ein Mann, der Utopien wagt. Ein charismatischer Visionär, Philanthrop und Vorreiter des Digitalen Humanismus in Österreich. Ein Innovator von Orten. Der Philosoph unter den Unternehmern. Im Gespräch.
Nicht nur der originell-schräg gestaltete und zum Verweilen einladende Arbeitsort, das „Department of Disruptive Disciplines“ in der Tabakfabrik Linz, der er von 2013 bis 2023 als Direktor vorstand, und seine stilvoll-elegante Erscheinung stechen einem sogleich ins Auge. Man blickt Chris Müller direkt in sein warmes Herz, noch bevor er so richtig in Fahrt kommt und aus einer überdimensionalen Schatzkiste voll mit Wissen, Ideen, Visionen, Unternehmungen und Erfahrungen zu erzählen beginnt. Ein Gespräch mit dem Linzer Unternehmer, Ortsentwickler und Weit(er)denker.
Wir befinden uns hier im „Department der disruptiven Disziplinen“ – ein interessanter Name. Was muss man sich darunter vorstellen?
Unser Department entspringt dem Wissen, dass man auf die Fragen der Zeit nicht allein eine Antwort geben kann, auch wenn man das glauben möchte. Dem Wissen, Räume schaffen zu wollen und sich mit klugen Menschen zu umgeben. Und diese Menschen sollten im Sinne der Kumpanen im Bergbau eine gewisse soziale Eigenschaft haben. Der Kumpane kommt ja vom Lateinischen „cum pane“: mit dem Brot. Mit Kumpanen teilte Jesus das Brot. Und mit wem teilt man das Brot? Mit jemandem, der einem wichtig ist, oder, wenn man das Brot geteilt hat, wird er wichtig. Es war mir und uns immer klar, dass wir kein Büro wollten, keine Blase, sondern wir wollten einen Ort haben, der funktioniert, weil wir dieselben Werte teilen. Nicht „New Work“, sondern ewige Werte, disruptiv also im Sinne von alte Konzepte aufbrechend, auflösend.
Antworten auf die Fragen der Zeit – das erinnert mich an etwas, was ich einmal über dich gelesen habe. Da hast du in einem Interview gesagt, dass es die richtigen Fragen sind, die uns von der KI unterscheiden. Künstliche Intelligenzen stellen allgemein keine Fragen. Sie sind vielmehr unsere Antwortgeber, aber auch darin sind sie nicht immer erfolgreich, siehe ChatGPT. Welche Fragen müssen wir stellen?
Die Antwort der Menschheit wird die Frage sein. Die künstlichen Intelligenzen können viel, aber im Fragenstellen und im Fehlermachen sind sie schlecht. Da sieht man schon, wo unser Vorteil als Menschen liegen könnte. Was der Mensch als Kreativität versteht, was man als Innovation versteht, weicht ab von einem statistischen Programm, das eine KI ist. Kreativität ist disruptiv! Hier sind wir wieder beim Wort „disruptiv“.
Mit deinem Unternehmen CMb.industries, das du 2016 gegründet hast, entwickelst du Orte. Was macht ihr genau?
Ich bin ein Mensch der Orte. Ob das ein Büro ist, ein Headquarter, ein Innovationsort, eine Region wie die Toskana oder das Silicon Valley – man kann zurückgehen in die Geschichte, es hat immer Orte neuer Ordnung gegeben. Orte, wo du vorbeikommst und denkst, Wahnsinn, von dieser Idee habe ich noch nie gehört. Dann gehst du weiter und bringst diese Idee zum nächsten Ort und zum nächsten. Wenn man sich die Bibliothek von Alexandria, die bedeutendste antike Bibliothek, anschaut, ist das umwerfend. Oder die Pyramiden! Man tut so, als ob Außerirdische das gebaut haben müssen. Aber so Orte entstehen, wenn Menschen zusammenkommen, die vorher nicht beieinander waren. Dann wird der Ort zum Ermöglichungsort. Die Frage ist dann, wie ich das fördern kann. Das ist sozusagen mein Beruf. Wir sind mit CMb.industries in der Städteentwicklung tätig, wir erschaffen Orte, die ermöglichen, dass Menschen, junge, alte, beeinträchtigte, gesunde, zusammenkommen können, um gemeinsam in der Gegenwart die Zukunft zu generieren. Um zu beantworten, wie diese Zukunft aussehen soll, braucht es Menschen, die denken, philosophisch und literarisch tätig sind. Wichtig ist, wir stellen zuallererst immer Fragen, als Bedingung für Antworten.
Ich war immer sehr verträumt, schon als Kind habe ich diesen Denkhorizont und die Vorstellungskraft gehabt, dass ich Orte erschaffen könnte. Wie im Roman „Moby Dick“, wo der Captain Ahab sagt, dass die wahren Orte, die Orte der Vorstellungskraft und der Imagination, auf keiner Karte verzeichnet sind, weil sie doch gerade erst erschaffen werden.
Ihr habt auch einen Philosophen bei euch im Team. Philosophen in Unternehmen sind allgemein rar – bedauerlicherweise, wie ich meine.
Ich fordere schon immer eine Quote für Philosophen in großen Unternehmen, das ist mir extrem wichtig! Dr. Bernd Waas macht zum Beispiel einen Workshop mit unseren Kunden, wo es um den Begriff der Nachhaltigkeit geht. Er nähert sich diesem Begriff an, auch aus historischer Perspektive. Er fragt unter anderem, was Kant dazu sagen würde. So kommt man irgendwann auch zum Digitalen Humanismus und zu all diesen Fragen, die heute philosophisch geprägt sind. Die Philosophie führt uns zum Licht der Erkenntnis.
Das Stichwort ist gefallen. Du bist ein Vorreiter des Digitalen Humanismus in Österreich. Was bedeutet Digitaler Humanismus für dich?
Da gibt es viele Schattierungen. Sehr einfach gesagt geht es darum: Wir müssen die Digitalisierung als Werkzeug verwenden und darauf schauen, dass nicht die KI uns als Werkzeug verwendet. Durch die Steuerung von allem durch Algorithmen und das Programmieren auf fast hysterischem Niveau besteht aber Gefahr, dass genau das passiert. Aber es gibt immer Gegenbewegungen, Pendelbewegungen, und diese Pendelbewegung ist heute der Digitale Humanismus, der ja nicht der erste Humanismus in der Geschichte ist.
Man muss sich vorstellen, das Handy, die Apps, die Algorithmen sind so etwas wie Hammer, Meißel, Besen und Schaufel. Es ist nicht die Schaufel, die uns sagt, was wir tun sollen, oder dass wir die Schaufel anbeten. Sie dient uns als Werkzeug und nicht umgekehrt. Der Mensch muss als Subjekt gesehen werden und nicht als Objekt. Ich will aber die Digitalisierung auf keinen Fall verteufeln. Mit ihr kann die Welt verbessert werden. In vielen Bereichen ist dies schon der Fall, etwa in der Medizin, wenn es etwa um das Erkennen von Hautkrebs geht. Man muss die Digitalisierung nicht verdammen, sondern darüber reden, sich auch der negativen Seiten bewusst sein. Und man darf nicht vergessen, die KI ist, zumindest heute noch, wo in künstliche Intelligenzen unsere Daten eingespeist werden, unser digitaler Zwilling. Frankenstein, Ikarus, der Terminator, jetzt die KI, wir erfinden immer etwas, das uns zunächst in Furcht, Schrecken und Hysterie versetzt. Aber dadurch, dass wir die Apokalypse nahen sehen, dass wir darüber nachdenken und reden, wenden wir sie ab. Hier setzt der Digitale Humanismus an.
Mein Eindruck ist, dass das Schlagwort „Digitaler Humanismus“ noch nicht so richtig in der Öffentlichkeit angekommen ist.
Ich bin natürlich in einer Blase, aber selbst wenn jemand den Begriff nicht kennt, wenn die Tochter Mobbing-Mails kriegt und Dick-Pics, die Oma von einem Telefontrickbetrüger um ein paar Tausend Euro betrogen wird oder man in den sozialen Medien aufs Ärgste beschimpft wird, dann ist das Thema durchaus angekommen.
Was passiert im Stift Wilhering diesbezüglich? Was ist dein Ziel mit dem Forum Humanismus Wilhering?
Es hat sich so ergeben, dass die Gemeinde Wilhering bei uns zu Besuch war in der Tabakfabrik und ich den Abt des Stifts, Reinhold Dessl, kennengelernt habe. Es war eine Freundschaft in Rekordzeit. Ich bin sehr angetan von ihm, Abt Dessl ist ein toller Mensch. Ich meinte zu ihm, dass es dem beeindruckenden Zisterzienserstift, das seit 1146 besteht, gut anstehen würde, es zu einem Ort des Digitalen Humanismus zu machen. Der Deal war schnell besiegelt, wir haben einen Pakt geschlossen, uns regelmäßig ausgetauscht. Es wurde ein Forum gegründet, das hoffentlich ewig und im besten Sinne weiterlebt. Das Forum Humanismus Wilhering (humanismus-wilhering.com) veranstaltet Workshops und geistige Expeditionen für Schulen, Universitäten und Unternehmen, mit dem zentralen Schwerpunkt Digitaler Humanismus.
Du wirst immer auch als Künstler vorgestellt, hast in Linz Bildhauerei studiert …
Ich habe Bildhauerei/transmedialer Raum und Kulturwissenschaften studiert. Das Studium war lebensverändernd für mich. Ob ich Künstler bin? Es kommt darauf an, wie man das definiert.
Zumindest machst du keine Bildhauerei, oder?
Im Sinne der sozialen Plastik von Joseph Beuys schon: Skulpturen, Kunst, die auf die Gesellschaft gestaltend einwirkt. Ich male in der Freizeit, ich schreibe Bücher und bin kreativ tätig, weil es das Einzige ist, was mich interessiert und was ich kann. Ich glaube, ich bin ein künstlerischer Unternehmer oder ein unternehmerischer Künstler, wie man will. Ich möchte immer, dass Ideen Fleisch werden. Sehr oft ist das eine Immobilie. Diese Fleischwerdung einer Idee ist der schönste Moment, den man als Kreativer haben kann.
Kürzlich ist dein Buch „Achtet auf die Möwen!“ erschienen. Was war deine Motivation dazu und warum sollte man es lesen?
Warum man es lesen sollte? Das weiß ich gar nicht. Das Schreiben daran hat sich ein bisschen so ergeben. Ich war bei einem Freund mit einem großen Anwesen in der Toskana, das er von Hugo Portisch übernommen hatte. Dort habe ich mich auf einen Vortrag vorbereitet. Es war großartig, überall der Geist von Hugo Portisch, den ich mehrmals persönlich getroffen habe. Ich befand mich in dieser unvorstellbar schönen Kurstadt Montecatini, wo es 2.000 Jahre alte römische Quellen gibt. Und dann habe ich begonnen, diesen Text zu schreiben.
Ich wollte niederschreiben, was mich so fasziniert an diesen Orten in der Toskana, für den Vortrag. Und dann schreibst du 30 Seiten, 70 Seiten, irgendwann denkst du, jetzt mache ich ein ganzes Buch. So ist es entstanden. Es gibt drei Handlungsstränge, der eine ist autobiografisch, eine Antihelden-Geschichte mit viel Witz und Selbstironie, weil ich mittlerweile genug Selbstvertrauen habe und nicht zu eitel bin, hoffe ich – obwohl Biografien eigentlich immer eitel sind (lacht).
Die Leser erfahren, warum ich so geworden bin, wie ich bin, mit Hochachtung, Wertschätzung und Glücksgefühl beschreibe ich die Orte und Menschen, die mich in meinem Leben besonders bewegt haben, wie man mit meinem Hintergrund dazu kommt, Immobilien und Innovationsorte zu entwickeln. Außerdem ist das Buch eine Anleitung für Orientierungslose, Schiffbrüchige, Verletzte und nicht zuletzt auch eine Kündigungsanleitung.
Du hast selbst letztes Jahr gekündigt, nämlich deinen Job als Direktor der Tabakfabrik. Wie blickst du auf die Zeit zurück?
Nur positiv! Es ist einfach ein Kapitel, das abgeschlossen werden wollte. Ebenso wie das Theater Hausruck, mit dem wir (Chris Müller gemeinsam mit dem österreichischen Regisseur Georg Schmiedleitner, Anm. d. Red.) sehr erfolgreich waren und mit dem wir sogar den Nestroy-
Theaterpreis erhalten haben. Nach 4.135 Tagen im Dienst der Tabakfabrik Linz habe ich gespürt, dass die Zeit abgelaufen ist.
Ein „innovator mundi“ muss immer wieder Neues kreieren …
Genau (lacht). Ich bin 50 geworden, habe mit meinen Kindern geredet, mit meinen Freunden, und ihnen gesagt, ich glaube, es ist so weit. Danach habe ich mich mit dem Bürgermeister zusammengesetzt, mit dem ich in sehr gutem Kontakt stehe aufgrund der langen Erfolgsgeschichte mit der Tabakfabrik, und habe ihm mein Anliegen mitgeteilt. Nun steht Neues an.
Eines deiner Kernprojekte ist ATMOS, das dir aus persönlichen Gründen ein großes Anliegen ist. Deine Tochter leidet an Cystischer Fibrose (auch: Mukoviszidose), eine Krankheit, die durch einen Gendefekt ausgelöst wird. Wie soll ATMOS das Leben der Menschen mit CF verbessern? Erzähl uns ein bisschen darüber!
Atmos ist eine Idee für einen Ort am Meer, eine Immobilie, ein Resort und eine Firma: Atmos Aerosol Research. Es ist ein Tempel, wo morgens der Wind kommt, die Wellen brechen, welche
Saline-Tröpfchen gebären. Diese werden inhaliert. Aber um zu wissen, wo man so ein Resort optimalerweise hinbaut, braucht man Technologie. Und die haben wir mit „ATMOS – Air Quality Monitoring“, einer App zur Überwachung der Luftqualität, in Echtzeit aktualisiert und weltweit verfügbar. Die Güte unserer Luft betrifft nicht nur Mukoviszidose- und COPD-Patienten, sondern alle Menschen. Denn Luftverschmutzung wird bis 2030 die dritthäufigste Todesursache weltweit sein.
Die App ist der Anfang, das Resort ist bisher nur ein Prototyp, aber wenn das Thema Luft immer wichtiger wird – und das tut es, sechs von zehn unter den bedrohendsten Krankheiten haben mittlerweile etwas mit Luft zu tun –, wird es umgesetzt werden. Die Fragen der Finanzierung und des Ortes sind noch nicht vollständig geklärt, aber die Zeit wird kommen. Das Resort soll auch ein Ort der guten Hoffnung werden.
Was für ein schöner Abschluss!
Wahrlich! Ein Ort der guten Hoffnung ist es wirklich. Ich war immer ein Mensch, der hofft. Ich bin ein hoffnungsloser Optimist. Aber optimistisch zu sein ist auch nur logisch, denn egal, wie lange du es durchdenkst: Es bringt dir nie etwas, ein Pessimist zu sein.