© Inge Prader

Mensch, Maschine!

Lisz Hirn über ihr neues Buch "Der überschätzte Mensch".

9 Min.

© Inge Prader

Lisz Hirn holt inmitten einer von Technik und Naturwissenschaften beherrschten Welt die Philosophie aus dem Elfenbeinturm und macht sie im Alltag sichtbar. 

Als Strandlektüre eignet sich Lisz Hirns neuestes Buch nicht. Eingeteilt in vier Kapitel: Essen, Sterben, Werden und Handeln, hat die Philosophin mit „Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit“ ein imposantes Denkgebäude geschaffen, gespickt mit einer Vielzahl an Zitaten von den größten Denkern der Menschheits­geschichte, die sie einordnet, interpretiert, in Beziehung zueinander und zu ihren eigenen Gedanken setzt. Eine gewaltige Denkleistung, niedergeschrieben auf rund 110 Seiten. Die Frage, die Lisz Hirn in ihrem Essay vordergründig beschäftigt, ist keine geringere als eine der Urfragen der Philosophie: Was ist der Mensch? Ohne eine abschließende Antwort darauf zu liefern, arbeitet sie die Verletzlichkeit als den zentralen Aspekt des Menschseins heraus, die sich hinter der Fassade seiner Selbstüberhebung verbirgt. Diese Verletzlichkeit, so der Appell der Philosophin, gilt es, nicht zu verbergen oder zu übergehen, sondern anzuerkennen.

„Der Mensch besteht aus Knochen, Fleisch, Blut, Speichel, Zellen und Eitelkeit.“ Mit diesem Zitat von Kurt Tucholsky startet der Prolog Ihres neuen Buches. Ein perfekter Einstieg, um über den sich überschätzenden Menschen zu sprechen, für das Buch und auch für unser Gespräch. Aber: Was ist der Mensch?
Ich habe diese Beschreibung des Menschen von Kurt Tucholsky zitiert, weil sie für mich das Wesentlichste ausdrückt. Was ich aber auch so schön fand, und was deshalb auch einen prominenten Platz im Buch bekommen hat, ist die Bemerkung der vierjährigen Philosophieschülerin, die – nebenbei bemerkt – eigentlich gar nicht hätte mitphilosophieren dürfen, weil wir erst ab dem Volksschulalter starten: „Der Mensch? Das ist eine lebendige Figur aus Fleisch.“ Mit seiner Definition war das Mädchen ein Stück weit Ideengeber, diesen Aspekt des Lebendigen ins Auge zu fassen. Das, was uns menschlich macht, ist das vermeintlich Negative am Lebendigsein, das Verletzliche. Was menschlich ist, wandelt sich natürlich stark im Laufe der Zeit. Bei den Griechen etwa war alles menschlich, was nicht barbarisch war. Der Mensch war vertikal zwischen Tier und Göttern verortet. Eine klare Definition dessen, was der Mensch ist und was ihn von den Tieren unterscheidet, ist wahrlich herausfordernd. Die Biologie erklärt nur die biologische Entstehung, nicht aber die Herkunft des Fleisches. Ich gehe im Buch unterschiedlichen Ideen zu diesen Fragen nach. 

Die Vernunftbegabung des Menschen kommt in den sozialen Medien an ihre Grenzen.

Lisz Hirn

Die Frage, was der Mensch ist, lässt sich philosophisch nicht endgültig klären. Was den Menschen unter anderem ausmacht, ist seine Selbstüberschätzung. Woran machen Sie diese fest? 
Es geht darum, sich als Mensch in einer Position zu verankern, wobei es einen großen Unterschied macht, ob sich der Mensch näher an die Tiere stellt oder an göttliche Wesen oder Übermenschen. Bei dieser Positionierung kommt die eigene Überschätzung ins Spiel, die sich auch ganz praktisch zeigen lässt anhand der Diskussionen um die sozialen Medien. Hier kann man eindeutig feststellen, dass gerade die Vernunftbegabung des Menschen, auf die in der Philosophie seit jeher viel gehalten wird, an ihre Grenzen kommt. Denn wir sind hilflos angesichts der sozialen Medien, mit Rationalität und Faktenwissen kann man die Probleme, die diese mitbringen – Fake News, Cybermobbing, Privatsphäre etc. – nicht lösen. Rationalität hilft uns hier nicht weiter. Hier braucht es Regulatorien, Gesetze. Dass man nur vernünftig sein müsse, ist eine Selbstüberschätzung. 

Wozu hat uns die Selbstüberschätzung geführt, was sind die Symptome dieser?
Ich würde ganz stark ein Symptom sehen, nämlich den Glauben an eine Technik, die alle Probleme löst. Es gibt ja diese Idee von einem Deus ex Machina: Es wird schon irgend­eine Maschine daherkommen, die uns das Problem löst, den rettenden, erfinderischen, genialen Helfer, der kommt, dann schaffen wir das schon – ganz ohne Verhaltensänderung möglicherweise. Ich glaube, das ist eine starke Fehlein- und Überschätzung. Diese Technikgläubigkeit basiert auf nichts, es könnte passieren oder auch nicht. Darauf zu bauen, ist nicht nur mutig, sondern vielleicht sogar tollkühn. Der Aspekt der Überschätzung schwingt übrigens auch mit beim Thema Emanzipation und Gleichberechtigung. Wir haben immer noch damit zu kämpfen, dass Menschsein sehr lange ganz stark mit Mannsein verbunden war. Der ideale Mensch, und nicht der defizitäre, war der Mann. Diese Selbstüberschätzung hängt uns noch nach. 

Der überschätzte Mensch ist aber nicht der überschätzte Mann?
Nein. Ich würde dann vielleicht eher sagen, der unterschätzte Mensch ist die Frau. 

Die 1984 in der Obersteiermark geborene und in Wien lebende und schaffende Lisz Hirn ist Philosophin, Publizistin, Buchautorin, freiberufliche Künstlerin, Obfrau des „Vereins für praxisnahe Philosophie“, im Vorstand der Gesellschaft für angewandte Philosophie (gap), als Dozentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie als Universitätslektorin am Institut für Architektur und Entwerfen der TU Wien tätig und betreibt eine philosophische Praxis sowie einen Podcast mit dem Titel „Oh wow – Philosophieren mit Hirn“. © Inge Prader

Sie haben schon die künstliche Intelligenz angesprochen, ein Thema, das in einer Diskussion über das Menschsein heute nicht fehlen darf. Die Vorstellungen von der Zukunft sind häufig apokalyptisch, selbst führende KI-­Experten warnen vor einer Vernichtung durch KI. Dass es eine Zukunft geben kann, in der der Mensch mit der Maschine in einer friedlichen Koexistenz auf Augenhöhe existiert, darüber wird selten geredet. Es gibt doch aber auch positive Szenarien inmitten der dystopischen Zukunftserzählungen …
Ja, die gibt es natürlich! Die Pflegeroboter in Japan beispielsweise sind aus einer absoluten Notwendigkeit heraus entstanden. Wer soll die Alten pflegen, wenn es viel zu wenige gibt, die diesen Beruf ausüben wollen und können? Paradoxerweise wollen wir ja selbst da, wo wir einzigartig sind und wo es Jobsicherheit gibt, gar nicht hin. Gerade in den Bereichen, die sicher sind, nämlich in der Pflege und im Sozialen, die aber trotzdem so unattraktiv sind, können uns Maschinen aushelfen.
Ich bin stark der Meinung, dass wir uns vor den künstlichen Intelligenzen nicht fürchten sollten, sondern vor denen, die dahinterstehen. Und davor, dass es zu wenige Regelungen gibt und wir zu wenige Eingriffsmöglichkeiten haben. Von einer gefährlichen Superintelligenz sind wir jedenfalls noch weit entfernt. 

Wie würde eine solche Koexistenz unser Menschenbild verändern? Müssten wir uns neu definieren?
Das ist eine interessante Frage, ob wir uns neu definieren müssten oder ob wir zu diesem Punkt kommen könnten, diese Freiheitsspielräume, die dem Menschen in Form der künstlichen Intelligenzen als Möglichkeit zugeschoben werden, einfach anzunehmen. Schon in der Antike träumte Aristoteles von Maschinen, die die Menschen von der notwendigen Arbeit befreien und ihnen Muße und Freiheit bringen. Es ist ja eigentlich eine absolute Befreiung, wenn Maschinen unangenehme, öde Arbeit für uns verrichten! Denn das heißt nicht, wie von vielen befürchtet, dass es dann keine Arbeit mehr für uns geben wird, sondern dass die Arbeit sich verlagern wird. Diese Angst, dass uns künstliche Intelligenzen die Arbeit wegnehmen, halte ich für eine Fehl-
einschätzung. Es wird nicht weniger, sondern andere Arbeit geben. 

Sie schreiben von einer „von technischer Rationalität beherrschten Lebensart“. Sollten wir „Metamenschen zwischen Smartphone und ChatGPT“ uns wieder auf unsere Conditio humana, unsere menschliche Natur, besinnen, und das, was uns so unvollkommen und verletzlich macht, als Stärke an- und nicht als Schwäche hinnehmen? 
Verletzlichkeit und Schmerz sind zunächst einmal natürlich kein Genuss. Als Stärke sehen? Vielleicht. Aber zumindest neutral sehen im Sinne von „das ist, was ist, und warum ist das eigentlich schlecht?“ und „das sind die Herausforderungen, mit denen wir umgehen müssen“, wie zum Beispiel gutes Leben ermöglicht wird. Es gibt keine Positivität ohne Negativität, nicht Lust ohne Schmerz, es gibt keine unendliche Luststeigerung, nicht das eine ohne das andere – das wäre wieder eine Überschätzung! Die interessante Frage ist, inwieweit wir uns auf unsere Verletzlichkeit einlassen. 

Die Vernunftbegabung des Menschen kommt in den sozialen Medien an ihre Grenzen.

Lisz Hirn

Hilft uns unsere Verletzlichkeit dabei, die multiplen Krisen in der Welt zu bewältigen? 
Ja. Das Erkennen unserer Verletzlichkeit kann uns helfen, uns selbst besser einzuordnen, als Einzelne, in der Gesellschaft, in der Natur, mit Blick auf die Technologien. Unsere Verletzlichkeit lässt sich nicht auslöschen, wir müssen uns um einen Umgang damit bemühen. Ich glaube, das kann in dem Moment gelingen, wo wir fähig sind, unsere Grenzen zu erkennen – biologische Grenzen oder etwa Grenzen die Planbarkeit betreffend, Unsicherheiten und eben unsere Verletzlichkeit – und auch den eigenen Handlungshorizont zu verstehen: Wo kann ich mich einbringen, wo sind Hebel, die ich in Bewegung setzen kann, von dieser Ohnmacht herauszukommen? Aber all das nicht unter der Grundannahme, irgendjemand wird uns retten, sei es ein starker Mann oder eine technologische Erfindung. Die Problematik darin ist, dass das der wesentlich unkomfortablere Weg ist und einen Aufwand von jedem Einzelnen und vom System erfordert.

Apropos System: Ist die Politik stärker gefragt beim Schutz des Menschlichen? 
Ja, das ist sie. Die Politik muss die Räume freihalten, nicht nur über Verletzlichkeit zu reden, sondern auch mit ihr umgehen zu lernen.

Glauben Sie, dass die „Anthropolypse“, der Untergang alles Menschlichen, naht?
Ich bin nicht als Optimistin bekannt (lacht). Was ich an diesem Begriff so mag und warum ich ihn verwendet habe, ist, weil wir auch hier diese Selbstüberschätzung drin haben. Alles wird vernichtet. Nein, es wird nicht alles vernichtet! Es wird vieles vernichtet, wir vernichten jetzt schon vieles, aber wir sind nicht nur als menschliche Spezies bedroht, sondern das Menschliche, das wir schützen wollen, diese Besonderheit im Sozialen, das Politische, das Verletzliche ist bedroht. Wir sind mit großen Schritten in Richtung Eskalation unterwegs, aber ich weiß auch, dass die Zukunft ungewiss ist – und das ist die einzig positive Nachricht, die ich habe, ohne wieder in einen apokalyptischen Tonfall verfallen zu wollen. Ich würde in jedem Fall nicht sagen, es wird uns schon irgendjemand retten. Mein Zugang wäre eher ein realistischer, nämlich uns zu fragen, was die kleinen Schritte sind, von wem wir was fordern können, was von uns selber gefordert werden muss, um uns damit Lösungen anzunähern. Die großen Schritte sind immer sehr reizvoll, aber es wird ganz viele kleine brauchen, auch wenn das weniger attraktiv ist. 

Haben Sie schon Ihr nächstes Buchprojekt angedacht? Oder was werden wir sonst von Ihnen hören in naher Zukunft? 
Man denkt immer an (lacht). Es gibt tatsächlich immer etwas, an dem ich schreibe, manches experimentell oder nur für mich. Publikationen kommt man ohnehin nicht aus, ich habe aber nicht den Ehrgeiz, jedes Jahr ein Buch herauszubringen. Auch am aktuellen Buch habe ich nicht „nur“ ein Jahr gearbeitet, sondern es bedurfte einer Vorbereitung von drei Jahren. Das Buch ist komprimiert und auf den Punkt gebracht, aber das heißt nicht, dass weniger Arbeit dahintersteckt – eher vielleicht sogar mehr, weil man alles herunterbrechen muss. Ich brauche nun Abstand, will wieder in Ruhe lesen können, was ich will, und einmal wieder etwas „Haptisches“ machen, also mit den Leuten an einem Projekt arbeiten. Momentan steht ein Projekt im Zentrum, das ich mit dem „Verein für praxisnahe Philosophie“ angehen möchte. Es ist immer etwas am Laufen, und es gibt immer Angebote, aber ich nehme mir die Freiheit, 2024 Zeit zu haben.

Buchtipp:

Lisz Hirn:
„Der überschätzte Mensch. 
Anthropologie der Verletzlichkeit“,
Zsolnay, ISBN 978-3-552-07343-2
€ 21,50
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