Gottfried Helnwein: Die Wahrheit ist ein Spiegel

Gottfried Helnwein polarisiert. Gottfried Helnwein nimmt kein Blatt vor den Mund. Wir haben ihn zum Coverinterview gebeten.

21 Min.

© Thom Trauner

„Aufreger – Helnwein zeigt öffentlich küssende Kinder“. „Helnwein: Erste Blicke auf die großen Schockbilder.“„Helnwein spaltet Gmunden: Lob und Pädophilie-Vorwurf“ – Schlagzeilen wie diese dominierten die Zeitungen, nachdem der international angesehene Künstler am 29. Jänner das Gmundner Rathaus und das Stadttheater mit drei seiner großformatigen Werke verhüllt hat.

Ob „Memory“ mit zwei küssenden Mädchen, „The Smile“ mit einem blutverschmierten lächelnden Kind oder „The Disasters of War“, das ein liegendes Mädchen in SS-Uniform zeigt, so viel diskutiert wurde in der idyllischen Traunseestadt schon lange nicht mehr.

Was durchaus im Interesse des Künstlers sein dürfte, denn in seinen Werken greift Helnwein kontroverse Themen wie Krieg, Holocaust, Gewalt gegen Kinder oder politische Unterdrückung auf und fordert die Betrachter heraus, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. „Meine Kunst fragt nicht, sie erklärt auch nicht. Meine Kunst ist ein Dialog“, erläutert Gottfried Helnwein.

© Thom Trauner

Herr Helnwein, warum wollten Sie als Kind Revolutionsführer werden?

Ich wurde kurz nach dem Ende des Weltkrieges in Wien geboren, als die Menschen noch den Atem anhielten, so als könnten sie noch immer nicht glauben, dass sie den Untergang der Welt überlebt hatten. Der Schatten des Tausendjährigen Reiches lag noch über der rußgeschwärzten Stadt, und vom Glanz der Metropole, die einst der Mittelpunkt eines Reiches war, in dem die Sonne nicht unterging, war nichts mehr übrig. In den frühesten Erinnerungen meiner Kindheit hatte ich das Gefühl, an einem falschen Ort gelandet zu sein. Ich war mir sicher, dass ich da nicht hingehörte, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste.  

Wie waren Sie als Kind?

Ich glaube, ich war ein aufsässiges und nervendes Kind. Irgendwie wusste ich, dass das nicht alles sein konnte, ich wollte unbedingt herausfinden, was davor war, ich wollte den Anfang der Geschichte kennen. Obwohl die Erwachsenen unter kollektiver Amnesie litten und keine Antworten auf meine Fragen hatten, fand ich doch immer mehr heraus über die Zeit davor und den Holocaust.

Ich habe die Kriegsverbrecherprozesse genau verfolgt, und als der KZ-Kommandant und Massenmörder Franz Murer freigesprochen wurde und im Triumphzug durch Graz zog, da zerbrach in mir das Grundvertrauen in die Gesellschaft, in der ich lebte. Von da an recherchierte ich wie besessen alle historischen und politischen Ereignisse, die mit dem Thema Gewalt und Unterdrückung zu tun hatten.

Damals tobte gerade der Vietnamkrieg und ich bin auf Berichte von unsagbarer Grausamkeit der amerikanischen Soldaten gegen die Bevölkerung, gegen Frauen und Kinder gestoßen. Und diese Ereignisse waren ja mitverantwortlich dafür, dass die 68er-Generation auf die Barrikaden stieg. Ich war wirklich ein schlechter Schüler, habe nie aufgepasst und mich in kindische Tagträume verloren, in denen ich als Revolutionsführer das ganze verrottete System zum Einsturz brachte.

Wie sind Sie schließlich vom „Revolutionsführer“ zum Malen und zur Kunst gekommen? 

Ich konnte immer ganz gut zeichnen und nach meinem Scheitern an allen Schulen bin ich schließlich an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien gelandet. Das war anfangs eine große Erleichterung, denn hier ging es nur ums Zeichnen, Latein gab es nicht mehr und andere Gegenstände spielten auch keine Rolle.

Der Anfang war nicht schlecht, weil wir nach der Natur zeichnen lernten und mit den Grundlagen vieler grafischer und malerischer Techniken vertraut wurden, aber dann wurde es fad, denn Grafiker wollte ich nie werden. Für einige Augenblicke überlegte ich, ob ich Kinderarzt werden sollte, aber mit 18 Jahren war mir plötzlich klar, dass es nur einen einzigen Ausweg für mich gab: die Kunst. Ich ging auf die Wiener Kunstakademie und dort habe ich dann, fast autistisch, langsam meine eigene Arbeitsweise, meinen Stil und die Methode meiner Kunst entwickelt. 

Die Kunst ist besser als jedes Geschichtsbuch.

Gottfried Helnwein

Ab wann konnten Sie von der Kunst leben?

Da ich nie einen anderen Beruf hatte, musste ich immer schon davon leben. In unserer Jugend hatten wir alle kein Geld, aber das brauchten wir auch nicht, denn im Wien der 60er-Jahre konnte man völlig mittellos auf sehr hohem Niveau leben. Das Leben spielte sich hauptsächlich in Kaffee- und Wirtshäusern ab und später nachts auch in den Discos. Man konnte gut aufschreiben lassen oder mit Zeichnungen bezahlen.

An Geld haben wir nie gedacht. Die Wiener Kunstszene war damals ein anarchistischer, chaotischer Haufen von Genies, Galgenvögeln und Spinnern. Uns Nachgeborenen schien der Rundumschlag der einzig legitime Ausdruck der Kunst zu sein. Jeder wollte es den Spießern zeigen, es war die längst überfällige historische Abrechnung mit der Generation unserer Eltern und dem beschissenen Erbe, das sie uns hinterlassen hatten. Der Höhepunkt war die berüchtigte „Uni-Ferkelei’“, eine Wortschöpfung der Kronen Zeitung, die im Juni 1968 im Hörsaal 1 der Uni stattfand. Günter Brus, Otto Muehl und andere Künstler sprangen zu den Klängen der Bundeshymne auf den Katheder und brachen mit Aktionen wie Masturbation, mit Nacktheit und Exkrementen radikal Tabus.

Sonst ging es im Allgemeinen etwas gemütlicher zu, die meisten von uns verbrachten einen Großteil der Zeit mit Saufen, immer mit der unvermeidlichen Zigarette im Mund, wodurch das Leben vieler Künstler dieser Generation beträchtlich verkürzt wurde. Den aufrührerischen Geist der Wiener Kunstszene könnte man am ehesten mit dem der Musikszene der angelsächsischen Welt vergleichen. Dort waren es die Rockmusiker, hier waren es die Aktionisten, Maler und Schriftsteller.

Gottfried Helnwein vor dem Bild „Memory“ am Gmundner Rathaus. © Thom Trauner

Waren Sie da auch live dabei? 

Natürlich, aber die ganze Szene war überhaupt nicht organisiert oder miteinander verbunden. Es handelte sich immer um spontane Einzelaktionen im kleinen Kreis und es gab kaum Informationen, die über den Freundeskreis hinausgingen.

Ich habe 1965/66 mit Selbstverletzungs- und Bandagierungsaktionen begonnen. 1968 habe ich für eine Fotoaktion in starrer Haltung und Hitlergruß posiert. Dass Anselm Kiefer ein Jahr später ebenfalls für eine Serie von Fotos die Hand zum Hitlergruß erhoben hat, „versunken in die ebenso lächerliche wie verhängnisvolle Geste der Eroberung“, wie Christoph Ransmayr über die Kiefer-Fotos schrieb, davon wusste ich natürlich nichts. Erst Jahrzehnte später habe ich davon erfahren. Kippenberger und Jonathan Meese haben dann, viele Jahre später, ebenfalls mit ähnlichen Aktionen für Aufsehen gesorgt.

Vielleicht ist es die Sehnsucht nach der Katharsis, die deutschsprachige Künstler immer wieder zu solchen Aktionen motiviert hat. Ab 1970 habe ich weitere fotografische Selbstdarstellungen mit Bandagen und chirurgischen Instrumenten inszeniert, im Atelier, aber auch auf der Straße, und schließlich habe ich auch Kinder in meine Aktionen miteinbezogen, die dann mehr und mehr, auch in der Malerei, zum zentralen Thema meiner Arbeit wurden. Der Kunsthistoriker Peter Gorsen hat dazu geschrieben: „Abgrenzbar ist Helnwein auch vom Wiener Aktionismus, wenn er den Körper des Kindes nicht zum ästhetischen Material wie in den ‚Materialaktionen‘ von Günter Brus, Hermann Nitsch und Otto Muehl nivelliert, sondern ihm eine symbolische Stellvertreterfunktion für den wehrlosen, geopferten Menschen verleiht. Dem sexualistischen Verständnis des Kindes, im Freud rezipierenden ‚Wiener Aktionismus‘ setzt der Moralist und Weltverbesserer Helnwein die geschlechtslose Heilsgestalt des Kindes entgegen.”

Ich glaube, dass jede relevante Kunst eine Antwort auf die Zeit ist, in welcher der Künstler lebt, und dass er sich diesen Bedingungen und Herausforderungen nicht entziehen kann. Künstler sind die präzisesten Chronisten der Geschichte, und von der Kunst jedes Zeitalters können Sie immer auf den Zustand der jeweiligen Gesellschaft schließen.

Anfangs haben Sie sich stark mit Comics beschäftigt, was man auch an Ihren Werken merkt. Wann entstand Ihr Interesse an der Hochkunst?

Ich habe mich erst sehr spät mit Kunstgeschichte beschäftigt. Selbst als ich schon jahrelang gemalt habe, hatte ich kein Interesse an der sogenannten Hochkunst, der Kunstszene oder irgendwelchen Kunsttheorien. Wie viele aus meiner, der sogenannten 68er-Generation wollte ich mit dem historischen Ballast und der Tradition meiner Elterngeneration nichts mehr zu tun haben, und dazu gehörten leider auch die Museen.

Meine Kunst, das waren die Comics, vor allem Carl Barks, Hergé und andere, in der Musik die Stones, Hendrix, Captain Beefheart, Rock‘n‘Roll und der Blues. Ich war ein stolzer Underdog, ein Straßenkind der trivialen Künste. Ich habe – so wie auch die Künstler der amerikanischen Pop-Art – erkannt, dass Comics die Bildsprache des zwanzigsten Jahrhunderts sind. Erst viel später habe ich begonnen, mich mit Kunstgeschichte auseinanderzusetzen.

Wie hat diese Auseinandersetzung begonnen?

An einem kalten, regnerischen Wintertag im Januar fuhr ich nach Florenz, um die Uffizien zu besuchen. Es war ein interessantes Experiment für mich, ich wollte völlig neutral und unvoreingenommen sehen, wie die angeblich so bedeutenden Werke der Renaissance auf mich wirken würden. Nach dem dritten oder vierten Bild, es war ein Werk von Andrea Mantegna, war ich wie vom Blitz getroffen, ich war in einem Schockzustand, auf so eine emotionale Erschütterung war ich einfach nicht vorbereitet gewesen.

Die Qualität dieser Bilder hat mich so überwältigt, dass ich den Saal verlassen musste, weil mir die Tränen kamen. Nach diesem „Damaskuserlebnis“ habe ich mich sehr intensiv mit der Kunst der Vergangenheit beschäftigt, und ich habe seitdem immer wieder ähnliche Erlebnisse gehabt, die mich jedes Mal aufs Neue aufgewühlt und erschüttert haben.

Welche Maler beeindrucken Sie, gibt es Lieblingskünstler?

Vor allem Bilder von Rembrandt und seltsamerweise auch von Kandinsky, denn abstrakte Kunst hat mich davor nie interessiert. Wer mich aber am meisten beschäftigt, und wo ich eine ganz besondere Nähe spüre, ist Francisco de Goya. Ich besitze alle seine Radierungszyklen und die 80 „Capriccios“-Radierungen hängen an meinen Wänden, verteilt auf mehrere Räume. Ich sehe sie jeden Tag, und es ist für mich so, als dürfte ich jedes Mal einen Blick in die geistige Innenwelt, in die innersten Bereiche der Seele dieses Mannes werfen, der seit 200 Jahren tot ist, den ich niemals getroffen habe, und bei dem ich trotzdem das Gefühl habe, noch nie einem Menschen so nah gekommen zu sein.

Meine Frau und Donald Duck natürlich ausgenommen (lächelt). Meine andere große Liebe ist die Kunst, Philosophie, Musik und Literatur der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, vor allem das Werk von Caspar David Friedrich. Im zwanzigsten Jahrhundert wären das Munch, Kandinsky, James Ensor, Antonin Artaud, Pier Paolo Pasolini, Philip Guston, Anselm Kiefer und Robert Crumb, um nur einige zu nennen.

Ich will mich mit meiner Arbeit auf die Seite der Opfer stellen und ihnen eine Stimme geben.

Gottfried Helnwein

Mit Ihren großformatigen Bildern und Installationen erregen Sie großes Aufsehen, positiver wie negativer Natur, wie man in Gmunden feststellen kann. Was wollen Sie damit erreichen?

Großformatige Bilder an und in öffentlichen Gebäuden haben eine lange Tradition. Von den Wandmalereien in Ägypten, Pompeji, der Renaissance bis in die Neuzeit. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist unsere Welt mit großformatigen Billboards vollgepflastert, die in erster Linie Reklame- und Propagandazwecken dienen, und ich denke, es ist an der Zeit, dass sich Künstler diese Bildflächen wieder zurückerobern. 

1988, zum 50. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht, errichtete ich zwischen dem Museum Ludwig und dem Kölner Dom eine monumentale, fast 100 Meter lange Bilderstraße, um an dieses Ereignis zu erinnern. Seither habe ich weltweit im öffentlichen Raum viele monumentale Bilder installiert. 

Vergangenes Jahr wurde in Wien Ihr 3.000 Quadratmeter großes Werk „My Sister“, mit dem Gesicht eines verwundeten Mädchens, auf den Ringturm aufgezogen. Würde das auch in Amerika, wo Sie auch teilweise leben, funktionieren? 

Nein, sicher nicht. Amerika ist bilderfeindlich. Ethik und Mentalität eines Landes kommen ja aus einer Tradition, die über lange Zeiträume hinweg entsteht. In Amerika haben die Puritaner, die Calvinisten mit ihrer Lust- und Bilderfeindlichkeit einen starken Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt, und diesen Ungeist spürt man auch heute noch in Amerika. Man merkt das auch daran, wie die Sprache reglementiert wird.

Im calvinistischen Protestantismus muss man sehr aufpassen, was man sagt. Jedes Wort ist wie eine Tretmine. Im Alltag sagen die Leute zwar dauernd „fuck“ dies und „fuck“ jenes, aber im Fernsehen oder im Radio werden diese Worte durch einen Piepton unkenntlich gemacht und im Druck durch Sternchen ersetzt. Jeder weiß zwar, was gemeint ist, aber Fluchen ist für Puritaner eine Sünde. Bilder sind böse und bestimmte Worte sind böse, sie müssen daher verboten werden. Dabei ist Amerika andererseits wieder ziemlich extrem, was Drogen, Gewalt und Pornografie betrifft.

Manfred Deix ist einmal mit seinen ganzen Arbeiten nach Amerika geflogen und hat sie in der „Penthouse“-Redaktion präsentiert. Alle haben gemeint: „Oh mein Gott, ist das gut, aber nicht in den wildesten Träumen könnte man so etwas hier veröffentlichen.“ Das calvinistische Diktat hat eine total scheinheilige Gesellschaft geschaffen. Die kapitalistische Elite dort ist ein einziges korruptes Gesindel. Alle Politiker sind Abschaum. Nicht nur Trump, wie uns die Medien glauben machen wollen, die anderen sind mindestens genauso arg. Ich möchte aber ausdrücklich anmerken, dass ich in Amerika viele Freunde habe und auch viele ganz wunderbare Menschen getroffen habe. Jedenfalls kommt diese ganze wichtigtuerische Woke-Bewegung, die sich wie ein Krebs über die ganze Welt ausgebreitet hat, genau aus dieser amerikanischen Tradition.

Die Wokeness hält ja auch bei uns in Europa immer mehr Einzug. 

Ja, aber es ist eigentlich nicht unsere Kultur. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominiert und prägt die amerikanische Kultur und Propaganda den Rest der sogenannten westlichen Welt. Neben vielen erfreulichen Dingen, wie Donald Duck, Chuck Berry, Elvis und Charles Bukowski, die uns aus den Klauen des Nazi-Erbes gerettet haben, kommt in letzter Zeit allerdings vorwiegend eher Schwachsinniges aus diesem Imperium.

Wer dort lebt, weiß immer schon ein paar Jahre im Vorhinein, welcher neue Blödsinn nun wieder nach Europa kommen wird. Die sogenannte „Cultural Appropriation” (kulturelle Aneignung) der Woke-Doktrin zum Beispiel oder die „Critical Race Theory”, nach der jeder Weiße, ohne Ausnahme, ein Rassist ist, kommt natürlich aus dem kollektiven Schuldgefühl der Amerikaner wegen ihrer Verbrechen an den Schwarzen.

Was man nachvollziehen kann, und in einem noch höheren Maß trifft diese Schuld auf das British Empire zu, welches nicht nur den größten Sklavenhandel aller Zeiten aufgezogen hat, sondern auch in Indien, China und fast allen anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt bestialisch gewütet hat. Dass diese Generalschuld jetzt auf den Rest der Welt projiziert wird, und jeder verlegen sein und sich schuldig fühlen muss, wenn er einen Schwarzen sieht, finde ich eine Zumutung.

Erstens bin ich überhaupt nicht rassistisch, ich weiß gar nicht, wie das geht, und muss daher auch nicht umerzogen werden. Und zweitens hat es in unserer Gesellschaft ja nie Afrikaner gegeben. Das „N-Wort“ ist auch nicht unser Problem, denn bei uns sprach man vom „Mohren’“, der in erster Linie im Märchen vorkam, bei den Heiligen drei Königen oder beim Meinl. Wir verbanden mit diesem Begriff eher die geheimnisvolle Welt des Orients und all die guten Dinge, die von dort gekommen sind. Später kamen dann Chuck Berry, Little Richard, Muddy Waters, Howlin‘ Wolf, James Brown, Jimi Hendrix und all die anderen schwarzen Götter, vor denen wir gekniet sind, da ging es mir wie den Rolling Stones.

Also, sorry, guys – no KKK, no slave masters over here. Das alles können sich die Amerikaner dorthin schieben, wo die Sonne nie scheint. Das können sie nicht auf uns abwälzen, um diesen moralischen Scherbenhaufen müssen sie sich schon selber kümmern, damit haben wir jetzt ausnahmsweise mal nichts zu tun. Wir haben unsere eigene historische Schuld, mit den Bildern der Leichenberge von Auschwitz, die uns unsere Eltern hinterlassen haben, haben wir genug zu tun. Und obwohl meine Generation nicht am Holocaust beteiligt war, gibt es doch so etwas wie eine historische Verantwortung, der man sich nicht entziehen kann.

Sie machen in Ihren Bildern Gewalterfahrungen von Frauen und Kindern sichtbar. Welche Rückmeldungen bekommen Sie von Betrachtern und Betrachterinnen?  

Die meisten Reaktionen bekomme ich von Frauen, die oft sehr emotional sind, und die sich bei mir bedanken. Bei meiner Ausstellung im San Francisco Fine Arts Museum kam eine ältere Dame auf mich zu und umarmte mich spontan und sagte: „Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, wie wichtig es ist, dass Sie Ihre Bilder gerade hier und jetzt zeigen.” Eine andere, junge Frau, die eine Dissertation über mich geschrieben hatte, gestand mir eines Tages: „Ich habe Ihre Bilder das erste Mal als 14-Jährige in einem Katalog gesehen, ich war wie gebannt und musste sie immer wieder ansehen, und plötzlich begann ich zu zittern und bekam Weinkrämpfe.

Ich wunderte mich selbst über meine Überreaktion, und nach einiger Zeit kamen langsam meine eigenen Bilder in mir hoch, Erinnerungen aus meiner Kindheit, die ich vollkommen vergessen und verdrängt hatte – und dann wusste ich es wieder: Ich war als Kind missbraucht worden. Und die weitere Beschäftigung mit Ihren Bildern hat mir schließlich geholfen, mein Trauma zu überwinden.” Warum meine Bilder diese Wirkung haben, weiß ich auch nicht, aber ich denke, die Menschen spüren in den Arbeiten die Intention des Künstlers. Sie merken, dass das, was ich mache, nicht beliebig, zynisch oder spekulativ ist, sondern dass die Motivation tatsächlich Empathie ist. Ich will mich mit meiner Arbeit auf die Seite der Opfer stellen und ihnen eine Stimme geben.

© Thom Trauner

Sie haben sich immer mit Gewalt auseinandergesetzt. So viele Jahre, so viele Werke, haben sie dadurch den Glauben an das Gute im Menschen verloren? 

Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe gelernt, zwischen Ideologien, Propaganda, den Machenschaften machtgieriger Eliten und den sogenannten „einfachen” Menschen zu unterscheiden. Wenn man jeden einzelnen Menschen als Individuum betrachtet und mit Respekt behandelt, wird man bemerken, wie viele wunderbare Menschen es gibt. Erst in der Masse, durch Propaganda aufgehetzt und fanatisiert, werden Menschen zu Monstern. In Kindern haben wir die ursprünglichste und reinste Form des Menschseins, bei ihnen ist die Fähigkeit zu träumen, zu lieben, zu spielen und zu kreieren noch intakt. Erst durch das gewaltsame Eindringen der korrupten Erwachsenenwelt in ihre Seelen wird all das zerstört. George Bernard Shaw sagte: „Wir hören nicht zu spielen auf, weil wir alt werden. Wir werden alt, weil wir aufhören zu spielen.“

Das größte Verbrechen ist für mich die Gewalt gegen jene, die sich nicht wehren können. Das ganze Ausmaß an Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch gegen Kinder und Frauen ist den meisten gar nicht bewusst. Weltweit haben Missbrauch, Menschenhandel, Erniedrigung, Vergewaltigung und Folter geradezu industrielle Ausmaße angenommen. Das Internet ist mit Kindergewaltpornografie überschwemmt. Gewalt gegen Frauen und Kinder zieht sich durch alle sozialen Schichten und Ethnien, besonders unter den Eliten der Superreichen gibt es organisierte Kinderschänder-Ringe, die regelmäßig Vergewaltigungsorgien feiern und in manchen Fällen sogar hohe Summen zahlen, um zusehen zu können, wie Kinder, auch Babys, vergewaltigt, gefoltert und getötet werden.

Und das ist leider keine Verschwörungstheorie. Dutroux in Belgien, der BBC-Journalist Jimmy Savile in England und natürlich Epstein in den USA sind nur die Spitze des Eisberges. Die ganze Finanz- und Politik-Elite war an Epsteins systematischem Missbrauch beteiligt, von Bill Clinton, Bill Gates, dem israelischen Ex-Premier Ehud Barak bis zu Prince Andrew. Epstein hat all die Orgien heimlich filmen lassen, das Material wurde vom FBI beschlagnahmt und ist sicher verwahrt, juristische Folgen für die Vergewaltiger gibt es daher, wie nicht anders zu erwarten, nicht.

Wenn es nur mehr ausschließlich um Macht geht und Ethik und Menschlichkeit kein Rolle mehr spielen, ist dieses Filmmaterial natürlich sehr wertvoll. Wer die Politik kontrollieren will, muss die Politiker kontrollieren.

In Amerika, wo Sie auch leben, stehen im Herbst Wahlen an. Wird Donald Trump der nächste Präsident? 

Wenn es nach den Umfragen geht, müsste er die Wahl haushoch gewinnen. Es gibt derzeit in Amerika niemanden, der mit ihm diesbezüglich konkurrieren könnte. Amerika befindet sich in einer existenziellen Krise. Dieses raubkapitalistische System, ohne sozialen Gewissen, welches nur den Military-Industrial Complex und die kleine Elite der Superreichen bedient, hat die Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht und die Mehrheit der Menschen zu den Verlierern dieses Systems gemacht.

Die meisten Amerikaner haben das Vertrauen in die Institutionen, die etablierten Parteien und Medien vollkommen verloren, und Trump, ein Meister der Demagogie, hat es geschafft, sich als Champion der kleinen Leute, als „Working Class Hero“ darzustellen, als den einzigen, der Amerika noch vor dem Untergang retten kann. Die Alternative in dieser Wahl ist ein korrupter, schwer dementer Greis, der große Mühe hat, bei seinen wenigen Auftritten, den Schwachsinn, den andere geschrieben haben, vom Teleprompter abzulesen. Aber auch im Rest der westlichen Welt sind die rechtspopulistischen Parteien auf dem Vomarsch. Meloni in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Javier Milei in Argentinien haben schon gewonnen, die FPÖ, die AfD und Marie Le Pen sind dabei aufzuschließen. 

Vielleicht wäre es für die Politiker und die etablierten Parteien an der Zeit, nachzudenken, warum ihnen die Wähler davonlaufen. Sie wegen ihres Wahlverhaltens zu beschimpfen, wird das Problem nicht lösen. Auch die Überlegung Bert Brechts ist wohl nicht umsetzbar: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ 

Vielleicht sollten sich die Politiker die Mühe machen, herauszufinden, was die Sorgen und Ängste der Menschen sind, von denen sie gewählt wurden, was diesen am Herzen liegt. Und vielleicht sollten sie für deren Interessen arbeiten, statt für die Interessen internationaler Banker, Konzerne und den sogenannten Military-Industrial Complex.

Chefredakteurin Ulli Wright und Gottfried Helnwein im Talk. © Thom Trauner

Gibt es aktuell etwas in der Kunstszene, was sie für positiv halten?

Ja, zum ersten Mal in der Geschichte sind wir an einem Punkt angekommen, wo jede Ausdrucksform, jeder Stil, jedes Medium erlaubt ist. Natürlich entsteht dabei auch viel Blödsinn, weil wirklich alles als Kunst bezeichnet werden kann. Das tut aber nicht weh, man muss ja nicht hinschauen. Beruhigend ist aber, dass es, wie immer, durch die ganze Geschichte der Kunst eine kleine Zahl von authentischen, relevanten und wichtigen Künstlern und Künstlerinnen gibt, und erstaunlicherweise sogar ein paar Genies, vor denen man nur in Demut das Haupt beugen kann.

Wie stehen Sie zur Bilderflut, die uns heute überschwemmt?

Die Informationsmenge, mit der uns das Internet überschwemmt, kann niemand mehr verarbeiten. Außerdem wird es immer schwieriger, zwischen dem zu unterscheiden, was in der Welt wirklich passiert, was Propaganda und Fiktion, was Realität und was Fake ist. Als Tour Guide in diesem Dschungel bietet sich Google an, die Daten für uns zu selektieren, um uns den richtigen Weg zu weisen.

Ein ausgeklügelteres und raffinierteres System zur Manipulation der Menschen hat es noch nie gegeben. Wobei man nicht immer fälschen muss, das Weglassen kann auch ein gutes Mittel sein, die Realität bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. George Orwell hat gesagt: „Die größte Lüge ist die Weglassung, und wenn alle anderen die Lüge glauben, und alle Aufzeichnungen gleich lauten, dann geht die Lüge in die Geschichte ein und wird zur Wahrheit.“  

Gottfried Helnwein
© Thom Trauner

Zur Person

Gottfried Helnwein wurde am 8. Oktober 1948 in Wien geboren und studierte von1969 bis 1973 Malerei in der Meisterklasse Professor Rudolf Hausner an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Anfang der 1970er-Jahre begann Helnwein mit performativer Kunst auf der Straße sowie mit fotografischen Aktionen in seinem Atelier und im öffentlichen Raum. Seine durch Außergewöhnlichkeit, Eindringlichkeit und technische Brillanz bestechenden Werke – sei es als Maler, Zeichner oder Bühnenbildner – begründeten Helnweins Ruf als Künstler von Weltrang. Unzählige Ausstellungen auf nahezu dem gesamten Globus und Zusammenarbeiten mit herausragenden Persönlichkeiten wie Muhammad Ali, den Rolling Stones oder Falco sind in Helnweins Lebenslauf ebenso zu finden wie sein Engagement gegen autoritäre Erziehung, Wettrüsten, Verschmutzung der Umwelt und gegen Gewalt an Wehrlosen, Frauen und vor allem Kindern.

Seit 1997 lebt und arbeitet Gottfried Helnwein abwechselnd in Südirland und in Los Angeles. Er ist verheiratet, Vater von vier Kindern und besitzt seit 2004 auch die irische Staatsbürgerschaft. Anlässlich seines 75. Geburtstages war in der Albertina in Wien von 25. Oktober 2023 bis 11. Februar 2024 die Ausstellung „Realität und Fiktion“ zu sehen, die einen Besucherrekord für einen lebenden Künstler in diesem Museum zu verzeichnen hatte.

Noch bis 7. Juni 2024 sind Gottfried Helnweins großformatige Triptychon-Darstellungen über Jesu Tod, Auferstehung und Geistaussendung im Stephansdom in Wien zu sehen.

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