
Die Kunst des Aushaltens
Ich halte das nicht mehr aus! Das hat jeder von uns schon einmal gesagt. Autorin Pamela Rath erklärt in ihrem neuen Buch, warum wir das Aushalten als Stärke sehen sollten und wie wir diese Kompetenz trainieren können.
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Kriege, Klimakrise, Pandemie, künstliche Intelligenz – unsere Welt scheint aus den Fugen geraten. Unsicherheit ist allgegenwärtig und Wandel längst kein Ausnahmezustand mehr. Doch ist das wirklich neu? Oder war das Leben nicht schon immer von Herausforderungen geprägt? Autorin Pamela Rath wirft in ihrem neuen Buch „Die Kunst des Aushaltens“ einen ungewohnten Blick auf unsere Zeit. Statt schneller Antworten plädiert sie für eine Haltung, die heute mehr denn je gefragt ist: das Aushalten. Für ihr Buch sprach sie mit spannenden Persönlichkeiten wie der Philosophin Lisz Hirn und dem erfolgreichen Unternehmer Ali Mahlodji – und kam zu dem Schluss: Aushalten ist keine Schwäche, sondern eine unterschätzte Stärke. Wir haben mit der gebürtigen Linzerin darüber gesprochen, warum Aushalten eine unterschätzte Stärke ist und weshalb gerade Frauen oft besonders viel aushalten müssen.
Frau Rath, Ihr Buchtitel ist ungewöhnlich: „Die Kunst des Aushaltens“. Warum gerade jetzt ein Buch darüber?
Pamela Rath: Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Vieles, was wir lange für sicher gehalten haben, gerät ins Wanken und das löst Unsicherheit aus. Wir erleben, wie Gewohntes verschwindet, während das Neue noch nicht greifbar ist. In solchen Übergangszeiten ist das Aushalten – von Ungewissheit, Wandel, Komplexität – eine zentrale Fähigkeit.
Aushalten klingt im ersten Moment nicht gerade positiv. Was verstehen Sie darunter?
Viele denken bei „aushalten“ an etwas Passives, vielleicht sogar Schwaches. Aber das Gegenteil ist der Fall – wenn es aktiv geschieht. Aushalten bedeutet, mit etwas Schwierigem bewusst umzugehen, es auszuhalten, ohne daran zu zerbrechen. Wer aktiv aushält, greift auf eigene Ressourcen zurück. Und diese haben wir – aus Erfahrungen, durch Erinnerungen, durch alles, was wir im Leben schon gemeistert haben. Denken Sie zum Beispiel an Liebeskummer: Beim ersten Mal fühlt es sich an, als müsste man sterben. Der Schmerz ist überwältigend. Beim nächsten Mal kennen wir dieses Gefühl bereits und wissen, dass wir es überleben werden. Aushalten wird mit der Zeit leichter, weil das Gehirn entsprechende Erfahrungen abspeichert – es liebt sie sogar, denn sie machen Entscheidungen einfacher.
Aushalten ist eine Stärke – keine Schwäche.
Pamela Rath
Hat es in Ihrem Leben einen Moment gegeben, in dem Sie das selbst besonders stark erlebt haben?
Die Pandemie war sicher eine intensive Lernphase für mich. Aber eigentlich begleitet mich das Thema schon mein ganzes Leben – allein durch meine Hautfarbe. Ich musste oft Vorurteile aushalten, das Anderssein. Erst in Wien konnte ich mich in der Anonymität einer Großstadt wirklich „verstecken“. Diese Lebenserfahrung hat mich sehr geprägt.
In Ihrem Buch sprechen Sie mit 17 Persönlichkeiten über deren „Aushalte-Momente“. Was hat Sie daran am meisten überrascht?
Wie unterschiedlich Aushalten empfunden und gelebt wird! Jeder denkt dabei an etwas anderes. Für die meisten ist es ein zunächst negativ besetzter Begriff. Manche können dem Wort Aushalten auch gar nichts Positives abgewinnen, sie meiden es sogar. Was alle Gespräche vereint: Aushalten ist nie der einfache Weg.

„Ich halte das nicht mehr aus“ hat jeder von uns schon mal gesagt. Was kann man selbst tun, um die eigene Aushaltefähigkeit zu stärken – besonders in Zeiten multipler Krisen?
Sich seine eigenen Ressourcen bewusst machen. Was habe ich schon alles geschafft? Welche Krisen habe ich überstanden? Wir alle tragen so viel Kompetenz in uns, sie muss nur wieder aktiviert werden. Und man muss Geduld mit sich selbst haben. Aushalten ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann – wie einen Muskel.
Wo Licht ist, ist immer auch Schatten. Warum tun sich viele Menschen trotzdem so schwer damit, etwas auszuhalten, und gehen lieber in den Widerstand?
Dafür gibt es zwei zentrale Gründe, die für mich eng miteinander verknüpft sind. Erstens ist Leid immer mit Anstrengung verbunden. Wer leidet, befindet sich nicht in seinem gewohnten Modus. Etwas läuft aus dem Ruder, funktioniert nicht mehr wie gewohnt. Und jede Veränderung bedeutet Arbeit: ein Lernprozess, ein Anpassungsprozess – kurz: Aufwand. Auf unvorbereitete Anstrengungen reagiert der Mensch daher mit Ablehnung, weil er seine Energie sparen möchte. Der menschliche Körper ist schließlich ein hocheffizient konzipiertes System. Damit sind wir beim zweiten Motiv: dem Streben nach Lustgewinn und der Vermeidung von Frust. Was angenehm ist, empfinden wir als positiv – was frustrierend ist, als Belastung. Es ist also durchaus nachvollziehbar, ja fast pragmatisch, dass wir Frust und Leid lieber aus dem Weg gehen wollen.
Aushalten bedeutet, bewusst mit etwas Schwierigem umzugehen, ohne daran zu zerbrechen.
Pamela Rath
Was jeder Mensch aushalten kann, ist unterschiedlich. Gibt es aus Ihrer Sicht Menschen, die „besser“ aushalten können als andere? Sie schreiben ja zum Beispiel, dass Frauen im Laufe der Geschichte zu Meisterinnen des Aushaltens geworden sind …
Ja, definitiv. Zum einen sind wir alle individuell geprägt – durch unsere Persönlichkeit, Lebensumstände, Erfahrungen. Jeder Mensch kommt mit einem anderen Maß an Resilienz zur Welt und durchlebt unterschiedliche Arten von Frust – von existenziellen Krisen bis hin zu Luxusproblemen. Frauen allerdings haben zusätzlich über Jahrhunderte hinweg das Patriarchat aushalten müssen – also strukturelle Fremdbestimmung. Männer dominieren seit jeher Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Frauen hingegen nehmen bis heute nicht im gleichen Maße an den entscheidenden Prozessen teil. Das bedeutet: Sie mussten und müssen insgesamt mehr aushalten. Als Einzelne tragen Frauen oft, was ich die „weibliche Dreifaltigkeit der drei Ms“ nenne: Menstruation, Mutterschaft – ob man sie erlebt oder bewusst darauf verzichtet – und Menopause. Drei tiefgreifende, körperlich und emotional transformierende Phasen – drei Lebensabschnitte, die fast jede Frau, die älter als 55 wird, durchläuft.
Dazu kommt, dass Frauen deutlich häufiger von Gewalt betroffen sind …
Das stimmt – insbesondere von sexualisierter Gewalt. Die Zahlen zu Femiziden und anderen geschlechtsspezifischen Gewalttaten sprechen eine klare Sprache. Wenn in diesem Kontext noch immer behauptet wird, Feministinnen würden sich in eine „Opferrolle“ flüchten, oder der Feminismus sei eine Diskriminierung von Männern, obwohl wir schlicht fordern, als gleichwertig anerkannt zu werden – dann zeigt das, wie viel Schieflage viele Frauen auch heute noch aushalten müssen. Und zwar allein aufgrund ihres Geschlechts.
Im Dialog lernen wir, mit unserem eigenen Widerstand umzugehen – aber auch mit dem des Gegenübers.
Pamela Rath
Ihr Buch ist auch ein Plädoyer für mehr Dialog. Wie können wir lernen, andere Meinungen auszuhalten, ohne sofort in den Widerstand zu gehen?
Das ist für mich tatsächlich das einfachste und zugleich wirkungsvollste „Aushalte-Training“. Im Dialog lernen wir, mit unserem eigenen Widerstand umzugehen – aber auch mit dem des Gegenübers. Und idealerweise verstehen wir dabei andere Perspektiven besser und erkennen, dass uns oft mehr verbindet als trennt. Wenn jemand andere Erfahrungen gemacht hat als ich, kann ich daraus etwas lernen – wir alle können das. Vielleicht entwickeln wir sogar neue Ideen oder Lösungen, die uns alleine nicht eingefallen wären. Aber das kann nur geschehen, wenn wir einander zuhören und die Unterschiede nicht sofort als Bedrohung empfinden. Gerade in diesen herausfordernden Zeiten sollten wir uns darauf einlassen, dass es gemeinsam und in Vielfalt leichter geht.
Sie betonen, dass Ihr Buch kein klassischer Ratgeber ist …
Ja, es ist vielmehr ein Impulsgeber. Ich erhebe keinen Anspruch auf „die Wahrheit“. Ich habe meine Perspektive geteilt und andere eingeladen, das auch zu tun. Mein Ziel ist es, einen gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen – und Leserinnen und Leser zum Nachdenken zu bringen: Was halte ich eigentlich aus? Und wie kann ich diese Fähigkeit stärken?
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: Was sollte sich gesellschaftlich verändern, damit wir besser mit Veränderungen umgehen können?
Ich wünsche mir einen positiveren Umgang mit negativen Gefühlen – mit Schmerz, Frust und Enttäuschung. Damit wir in der nächsten Krise nicht überfordert sind, sondern handlungsfähig bleiben. Unsere Konsum- und Unterhaltungskultur ist darauf trainiert, Lust zu maximieren und Frust zu vermeiden. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, Frustvermeidung nicht mehr als Standard zu betrachten – sondern Aushalten als Kompetenz zu kultivieren. Wenn wir dem Leid seine Macht nehmen, ermächtigen wir uns selbst. Und das schafft Freiräume – für Solidarität, Kreativität, Menschlichkeit. Natürlich klingt das idealistisch. Aber Sie haben nach einem Wunsch gefragt – und jeder Wunsch kann auch ein Ziel sein. Ohne ein Ziel aber ist Aushalten kein Schritt in die Selbstermächtigung, sondern bloß ein Zustand.
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