Julia Wolf mit Tochter Enya

Julia Wolf: “Das Leben darf weitergehen”

Julia Wolf und ihr Mann erlebten den schlimmsten Moment, den Eltern sich vorstellen können: Ihr Sohn starb nur fünf Wochen nach der Geburt.

5 Min.

© privat

„Und dann kam dieser Tag, an dem wir ins Krankenhaus fuhren und wussten: Heute werden bei unserem Sohn die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet.“ Julia Wolf spricht ruhig, aber man spürt, wie sehr es sie bewegt, wenn sie davon erzählt. Vor zwei Jahren erlebten sie und ihr Mann Marco den schlimmsten Moment, den Eltern sich vorstellen können. Denn nach einer völlig unauffälligen Schwangerschaft kam ihr Sohn mit einem sehr seltenen Gendefekt auf die Welt.
„Ich habe morgens um sieben entbunden und durfte ihn erst kurz vor Mitternacht das erste Mal auf der Intensivstation sehen“, erinnert sie sich. „Ich konnte ihn gar nicht in den Arm nehmen, weil er sofort weggebracht wurde, und keiner konnte uns sagen, was mit ihm los war.“

Die Schock-Diagnose

Es folgen unzählige Untersuchungen, Stunden und Tage der Ungewissheit. Schließlich steht fest, dass ihr Sohn an einem Gendefekt leidet, der unter anderem seine Atemmuskulatur lähmt. Ohne Beatmungsgerät kann er nicht leben. „Diese Diagnose war ein Schock für uns – vor allem, weil alle pränatalen Untersuchungen unauffällig gewesen sind“, sagt die 34-jährige Linzerin.
Die Ärzte erklären den Eltern, dass die Forschung kaum Erkenntnisse über diese Krankheit hat und keine Hoffnung auf Heilung besteht. Julia Wolf und ihr Mann stehen vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Soll ihr Kind weiter an Maschinen hängen oder darf es gehen?

Fünf Wochen zwischen Hoffen und Loslassen

„Gemeinsam mit den Ärzten und einer Ethikkommission haben wir beschlossen, die Geräte abzuschalten“, erzählt sie. Sie atmet tief durch. „Nachdem unser Sohn von den Maschinen abgehängt wurde, lag er abwechselnd auf meinem Mann und mir – und dann haben wir darauf gewartet, dass das kleine Herz unseres Babys aufhört zu schlagen …“
Dieser Moment ist wie eine Zäsur in ihrem Leben. Nichts ist mehr, wie es war. Die Welt um sie herum steht still. Mit der Trauer gehen Julia und ihr Mann völlig unterschiedlich um. Während Marco Halt und Struktur in der Arbeit findet, ist für sie alles zu viel. „Ich bin zu Hause gesessen und habe nicht gewusst, wie ich weitermachen soll.“

Julia Wolf am Jakobsweg
In ihrer Trauer und Verzweiflung ist Julia Wolf den Jakobsweg gegangen. © privat

Alleine am Jakobsweg

Also packt sie ihren Rucksack und macht sie sich auf den Weg – nach Spanien, auf den Jakobsweg. „Ich war eineinhalb Monate allein unterwegs und habe dort die erste Trauerarbeit gemacht“, erzählt sie. „Es war eine wertvolle Erfahrung und hat mir wirklich gutgetan.“
Mitten am Weg erreicht sie irgendwann ein Anruf aus dem Krankenhaus: Die genetischen Tests zeigen, dass weder sie noch ihr Mann Träger des Defekts sind. „Da bin ich zusammengebrochen und habe nur noch gebrüllt: Warum?“, erinnert sie sich. „Heute kann ich für mich sagen: Dass Emjay – sein Name ist die englische Kombination der Anfangsbuchstaben unserer Vornamen Marco und Julia – mit diesem Gendefekt zur Welt gekommen ist, war eine Laune der Natur.“

Wenn dein Kind stirbt, relativiert das vieles im Leben.

Julia Wolf

Das Leben darf weitergehen

Als Julia Wolf nach Linz zurückkehrt, spürt sie zum ersten Mal, dass das Leben weitergehen darf. Sie beginnt, in ihren Beruf als Physiotherapeutin zurückzufinden. „Das war allerdings schwieriger als gedacht, weil einige meiner Patienten gezweifelt haben, ob ich überhaupt schon wieder in der Lage sei, zu arbeiten.“
In dieser Zeit wird eine Kollegin zur wichtigen Stütze. Gemeinsam entwickeln sie eine Idee, die alles verändert. „Ich wollte einen besonderen Ort für ganzheitliche Gesundheit schaffen – einen Raum zum Sein und Dasein“, erzählt die 34-Jährige. Gesagt, getan: Sie mietet 250 Quadratmeter und gründet die Gruppenpraxis „place to be. physio and more“. Hier arbeiten Expertinnen und Experten für Physiotherapie, Massage, Osteopathie und Yoga unter einem Dach. „Wir möchten unsere Patienten bestmöglich betreuen und unterstützen“, sagt sie. „Und wir haben sogar noch Platz für andere Gesundheitsberufe, wenn jemand in unser Team kommen möchte.“

Julia Wolf mit Tochter Enya
Selbst nach dem schwersten Schicksalsschlag geht es wieder bergauf: Julia Wolf mit ihrer zwölf Wochen alten Tochter Enya. © privat

Stolz und dankbar

Als die Praxis Mitte November eröffnet wird, empfindet Julia Wolf Stolz und Dankbarkeit. „Wenn dein Kind stirbt, relativiert das vieles im Leben“, sagt sie. „Früher hätte ich vermutlich gezögert, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Jetzt denke ich mir: Was soll schon passieren? Das Schlimmste in meinem Leben habe ich schon erlebt.“
Doch das Leben hält noch eine Überraschung für sie bereit: Denn just in der Planungsphase ihres neuen Projektes wird sie wieder schwanger. Tochter Enya ist jetzt zwölf Wochen alt und kerngesund. „Natürlich war das im Gründungsjahr eine besondere Herausforderung“, sagt sie lachend. „Aber ich wusste einfach, warum ich es mache. Ich möchte für meine Tochter ein Vorbild sein und ihr zeigen, dass man etwas schaffen kann, auch wenn das Leben einen einmal zu Boden wirft.“
Ihre beiden Kinder sind es auch, die der jungen Linzerin immer wieder Kraft geben. Als Mutter, Unternehmerin, Frau. „Ich war komplett am Boden“, sagt sie, „doch irgendwann war ich bereit, mir mein Leben wieder neu zu erschaffen. Und mein Sohn hat mich sehr in meinem Tun bestärkt. Ich glaube, er hat mir gezeigt, was wirklich zählt.“

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