„Behinderte Kinder bekommen andere…“

... hat Birgit Kubik aus Enns gedacht, bis sie mit der Geburt ihres ersten Sohnes Max (19) zur „Anderen“ wurde. Über ihr Leben mit einem autistischen Sohn hat die Marketingexpertin nun ein Buch geschrieben – authentisch, berührend und lebensnah.

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© Privat

Eer stellt Fragen am laufenden Band, fordert ungeteilte Aufmerksamkeit, kann nicht allein sein. Er verblüfft mit seinem unglaublichen Gedächtnis und seinen Terminaufzählungen, spricht überall, wo er ist, fremde Menschen an, macht ihnen Komplimente und berührt sie im doppelten Sinn. Der 19-jährige Max ist behindert – und seine Lebensfreude ansteckend. Unter dem Titel „in seinem Element. Der ganz normal-verrückte Alltag mit unserem autistischen Sohn“ hat seine Mutter Birgit Kubik ein Buch geschrieben, in dem die 53-Jährige von ihrem außergewöhnlichen Sohn erzählt und auch davon, was es für eine Familie heißt, ein Kind mit besonderen Bedürfnissen von der Geburt bis zur Volljährigkeit zu begleiten.

Frau Kubik, Ihr Sohn Max hatte einen schweren Start und musste kurz nach der Geburt zwei herznahe Operationen und unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen. Wann haben Sie erfahren, dass er eine autistische Spektrum-Störung hat?

Schon als Baby war Max etwas anders, er lachte nicht, er kuschelte nicht. So gerne wollte ich ihn im Arm halten und mit ihm schmusen, aber er mochte das nicht. Er wollte in sein Gitterbett. Dort lag er dann am Rücken, die Hände über dem Gesicht, sich hin und her schaukelnd. Ich wusste noch nichts über stereotype und repetitive Verhaltensweisen, noch nichts über erste Anzeichen einer autistischen Spektrum-Störung. Ich war einfach enttäuscht. Als Max sechs Jahre alt war, entdeckte ich auf einer Veranstaltung eine „Autismus-Checkliste“. Ich bin sie durchgegangen und stellte fest, dass fast alle Punkte auf Max zutrafen. Erst mit acht Jahren wurde Max getestet und erhielt die Diagnose „Frühkindlicher Autismus“.

Wie ist es Ihnen nach dieser Diagnose gegangen?

Wir waren nicht überrascht. Durch die Checkliste waren wir sensibilisiert und es war nur eine Bestätigung unserer Vermutung. Da die Jahre davor schon von unterschiedlichsten Herausforderungen geprägt waren, zog die Diagnose an sich keine Veränderung nach sich.
Wer hat Ihnen zu dieser Zeit am meisten geholfen?
In Max‘ ersten sieben Lebensjahren hat mir der Austausch mit unserer Frühförderin sehr geholfen. Sie hat es geschafft, uns direkt, aber feinfühlig schlimme Prognosen, wie zum Beispiel: „Max wird einen Rollstuhl benötigen“ zu vermitteln. Später war es der Austausch mit betroffenen Eltern, aber auch mit den Therapeutinnen, Pädagoginnen und unserer Psychologin.

Max hat einen jüngeren Bruder, Leo (17). Wie ist es Ihnen in der Schwangerschaft mit ihm ergangen, hatten Sie Angst?

Ich war zuversichtlich, dass mein zweites Kind gesund zur Welt kommen würde und habe mir gedacht: „Zwei behinderte Kinder, das kann doch nicht sein.“ Mittlerweile bin ich auch da eines Besseren belehrt worden. Zwei befreundete Familien von uns haben je zwei behinderte Kinder. Aber davon wusste ich damals nichts und so war ich positiv gestimmt. Allerdings wurde ich kurz vor der Geburt schon sehr nervös und war überaus glücklich, als Leo gesund zur Welt kam.

Birgit, Max und Michael Kubik


Welches Verhältnis haben die zwei Brüder zueinander?

Da ihr Altersunterschied nur zwei Jahre beträgt, sind sie „vom Handling“ her in den ersten beiden Jahren wie Zwillinge aufgewachsen. Leo war immer sehr lieb zu Max, obwohl es nicht möglich war, mit ihm etwas zu spielen. Später hat Leo seinen Bruder oft verteidigt, wenn wir mit ihm geschimpft haben. Für ihn ist Max, wie er ist. Für Leo sind alle Leute okay, so wie sie sind. Da ist er mir oft ein Vorbild.

Was hat Sie dazu motiviert, ein Buch zu schreiben?


Das Buch ist unserem Alltag an sich geschuldet. Die Jahre seit Max‘ Geburt waren so intensiv und facettenreich an Herausforderungen, das musste einfach alles mal raus. Ich habe mich im Jänner 2021 hingesetzt und zu schreiben begonnen. Gut elf Monate später war das Manuskript so weit fertig und ich unheimlich erleichtert. Das Schreiben war wie eine Therapie für mich.

Was möchten Sie mit dem Buch erreichen?

Ich möchte einen Einblick in den Alltag mit einem behinderten Kind geben und aufzeigen, was hinter bestimmten Verhaltensweisen stecken kann. Ich möchte ermutigen, offen über Herausforderungen zu sprechen, und vielleicht kann sich jemand auch etwas aus dem Buch mitnehmen.

Max ist seit Kurzem in einer Wohngruppe, wie schwer ist Ihnen diese Umstellung gefallen?

Das Schwierigste war, sich einzugestehen, dass man an die eigenen Grenzen gelangt ist. Dass man keine Kraft mehr hat, festgefahrene Verhaltensweisen aufzulösen, damit Max sich weiterentwickeln kann. Die unzähligen Handgriffe sitzen und werden nicht hinterfragt. Unsere betreuende Kinderpsychologin lag uns monatelang in den Ohren, damit wir endlich die ersten Schritte in Richtung Wohngruppe in die Wege leiten. Das geht ohnehin nicht von heute auf morgen, es gibt Wartelisten. Heute sind wir ihr sehr dankbar dafür. Mir fiel der Abschied mit Sicherheit um einiges schwerer als Max, der gut vorbereitet war. Als ich nach Hause kam, war er dann da, dieser über Jahre hinweg immer wieder herbeigesehnte Moment – aber es fühlte sich gar nicht leicht und beglückend an. Eher schwermütig und verloren.

Wie geht es ihm in der WG?


Max fühlt sich wohl. Er hat genug Leute um sich, die er befragen und kontrollieren kann. Er ist stolz darauf: „Ich wohne nun in einer Wohngruppe“, erzählt er freudig. An den Wochenenden holen wir ihn derzeit – auch aufgrund des Personalmangels in der Einrichtung – zu uns nach Hause. Da gibt es das Freibad, die Stadt, die vielen bekannten Leute, Veranstaltungen. Und überall ist er gerne mit dabei.

Das Schwierigste war, sich einzugestehen, dass man an die eigenen Grenzen gelangt. Das man keine Kraft mehr hat.

Birgitt Kubik


Mit welchen Gefühlen gehen Sie in die Zukunft?

Positiv, aber nicht ganz sorgenfrei. Da geht es mir wahrscheinlich wie allen Müttern, wenn deren Kinder ausziehen. Bei Max tauchen natürlich mehr Sorgen auf und ich muss akzeptieren, dass ich nicht mehr über alles Bescheid wissen kann. Das Loslassen will gelernt sein. Auf der anderen Seite kann Max sprechen und ist mobil. Das macht es für uns einfacher. Und wir wissen, dass er sich holt, was er braucht. In seinem Fall sind es vor allem Aufmerksamkeit und Antworten auf seine vielen Fragen. Und was die Sorgen danach anbelangt, da befolge ich den Rat meines Mannes: „Mach‘ dir erst Sorgen, wenn es so weit ist!“

Was brauchen Eltern mit autistischen Kindern seitens der Politik, seitens des Arbeitsmarkts? Wo gibt es Stolpersteine?

Prinzipiell haben wir in Österreich ein sehr gutes Sozialsystem, was wir zu schätzen wissen. Luft nach oben gibt es immer, vor allem angesichts der Wartelisten bei Werkstätten und im Betreuten Wohnen. Ein Manko ist auch, dass der Personalschlüssel viel zu knapp berechnet ist. Was auf dem Papier gut klingt, ist in der Praxis oft nicht mit der errechneten Anzahl an Unterstützungsstunden machbar. Da muss es möglich sein, in Ausnahmefällen aufzustocken und der jeweiligen Schulklasse oder Werkstätte zusätzliches Personal zuzugestehen. Im Wohnbereich sind zusätzliche Betreuungsstunden für verhaltensauffällige Bewohner und Bewohnerinnen nicht vorgesehen. Das ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar.

Wo sollen sich Eltern hinwenden, wenn sie glauben, dass ihr Kind Autismus hat?

In Linz gibt es das Autismus-Kompetenzzentrum. Das Team dort ist, wie der Name verrät, sehr kompetent, aber auch sehr ausgelastet. Derzeit wartet man auf einen Diagnose-Termin sechs Monate oder länger. Da geht viel wertvolle Zeit verloren. Zeit, in der das Kind schon adäquate Therapien erhalten könnte. Generell herrscht – wie zurzeit überall – auch in diesem Bereich eine Überlastung der Förderungs- und Beratungsangebote.

Woher holen Sie sich Ihre Kraft?

Beim Sport in der Natur. Früher bin ich gerne eine Runde laufen gegangen, jetzt gehe ich schwimmen und fahre mit dem Fahrrad in die Arbeit. Dabei genieße ich vor allem die Ruhe – keiner fragt, keiner möchte etwas von mir. Das ist herrlich. Auch bei einer Bergtour kann ich gut abschalten und Kraft tanken. Oben am Gipfel werden die Probleme viel kleiner. Ich komme zur Ruhe, und mit der Ruhe kehren Dankbarkeit und Zuversicht zurück. Beides ist notwendig, um den Alltag weiterhin gut bewältigen zu können.

Gibt es etwas, was Sie Eltern in ähnlichen Situationen raten können?

Offen über Probleme sprechen. Sich nicht scheuen, mit dem behinderten Kind in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Hilfe, die man angeboten bekommt, annehmen, auch wenn das oft schwerfällt. Unterstützung rechtzeitig organisieren, bevor man keine Kraft mehr dazu hat.

Buchtipp:

„In seinem Element.
Der ganz normal-verrückte Alltag mit
unserem autistischen Sohn“
von Birgit Kubik
Tyrolia-Verlag, ISBN 978-3-7022-4136-0; € 18
E-Book: ISBN 978-3-7022-4133-9, € 14,99

Buchpräsentationen:

ENNS
Sa., 30. September 2023, 19 Uhr,
Pfarrsaal Enns-St. Laurenz,
Lauriacumstraße 4

WELS
Mi., 11. Oktober 2023, 18.30 Uhr,
Buchhandlung SKRIBO Joh. Haas,
Stadtplatz 34

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