Problem: Fachkräftemangel

Um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und so dem eklatanten Fachkräftemangel in Österreich entgegenzuwirken, brauchen wir nicht nur qualifizierte Zuwanderung, sondern auch weniger Menschen in Teilzeitarbeit sowie eine Aufwertung der Lehre. Ein Gespräch mit Volkswirt Martin Halla.

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© Thom Trauner

Nicht zuvorderst die hohen Energiekosten, die geopolitischen Span­nungen, die Inflation, die hohen Rohstoffpreise oder überbordende Bürokratie, sondern der Mangel an Arbeits- und Fachkräften bereitet österreichischen Unternehmen heute Kopfzerbrechen. Lange Zeit war eine hohe Arbeitslosenrate das Sorgenkind, heute steht der Wirtschaftsstandort Österreich vor dem gegenteiligen Problem: Personalmangel. Welche Ursachen die­­ser hat und welche Lösungen es gibt, erfuhren wir von jemandem, der sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzt: dem auffällig entspannten und sympathischen Volkswirt Martin Halla.

Herr Halla, der Arbeits- und Fachkräftemangel ist auf demografische Entwicklungen zurückzuführen. Können Sie das kurz ausführen?

Die demografische Entwicklung allein wird dafür sorgen, dass es bis zum Jahr 2030 etwa 100.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter weniger geben wird als heute. Diese Entwicklung zeigt sich, wenn man sich ansieht, wie viele Geburten wir über die Jahre haben und wann diese Personen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Wir hatten in Österreich in den letzten 150 Jahren zwei Ausschläge nach oben: zum einen nach dem Ersten Weltkrieg bzw. nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland und zum anderen die sogenannte Babyboomer-Generation, die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden – ein Phänomen, das in der ganzen westlichen Welt zu finden war. Danach, ab Mitte der 1960er-Jahre, sind die Geburten eingebrochen. Nun haben im Jahr 2020 die Frauen dieser Generation den Arbeitsmarkt in Richtung Pension verlassen, die Männer folgen jetzt nach. Es findet eine gesellschaftliche Umschichtung von aktiven Beschäftigten zu Pensionisten statt. Natürlich kann man die Lücke auffüllen – Stichwort Migration –, aber rein von den Geburten her wird es in den nächsten Jahren weniger Beschäftigte geben.

Die Geburtenrate geht seit dem Jahr 2000 langsam hinauf – zu wenig?

Ja genau, sie geht viel zu wenig hinauf. Den starken Abfall nach den Babyboomern können die leicht erhöhten Geburtenraten der letzten 20 Jahre nicht wettmachen.

Welche Faktoren haben noch zum Fachkräftemangel beigetragen?

Es gibt mehrere, zum Beispiel hat die Corona­pandemie zu bestimmen Verwerfungen geführt. Viele Menschen waren in Branchen tätig, denen es schon davor nicht gut ging, diese haben dann in andere Branchen gewechselt. Hinzu kommt der Faktor der sogenannten „Work-Life-Balance“. Natürlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen von der Aufteilung Freizeit und Arbeit, aber manche Menschen wollen einfach weniger arbeiten – Sie kennen sicher die Diskussionen um die 32-Stunden-Woche. Das geht genau in die Gegenrichtung: Wenn schon weniger Arbeitskräfte vorhanden sind, und diejenigen, die da sind, auch noch weniger Stunden arbeiten, wird das zu einem Problem. Als letzter Punkt ist noch die sehr traditionelle Aufteilung von Arbeit in Familien mit Kindern in Österreich zu erwähnen: Zu viele Frauen arbeiten auf Teilzeitbasis. Der Anteil der Frauen, die nach einer Geburt Vollzeit arbeiten gehen, sinkt.

Zum letzten Punkt, Teilzeitarbeit: Der Politik ist das Problem durchaus bewusst. Minister Martin Kocher warnte erst kürzlich wieder davor, dass langfristige Teilzeitarbeit von zu vielen Menschen eine Bedrohung für den Wohlstand darstellt. Wenn wir von Teilzeitarbeit sprechen, kommt zwangsweise auch der Mangel
an Kinderbetreuungseinrichtungen zur Spra­che …


Es gibt vor allem im urbanen Raum ein sehr gut ausgebautes Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen, die Betreuungsquoten sind aber dennoch auch in Wien nicht so hoch wie etwa in Dänemark, wo Eltern kürzer in Karenz sind und wo es qualitativ hochwertige, gesetzlich verpflichtend zur Verfügung stehende Kinderbetreuungseinrichtungen gibt. Wenn Sie 1.000 Österreicherinnen und Österreicher fragen, ob sie glauben, dass ein Vorschulkind darunter leidet, wenn die Mutter Vollzeit arbeitet, dann sagen in Österreich 25 Prozent der Frauen und Männer, ja, das Kind wird sehr leiden. In Dänemark sind es sechs Prozent. Ich finde, man sollte niemandem vorschreiben, welche Betreuung er oder sie für seine Kinder zu wählen hat, aber das, was in der Politik seit Jahrzehnten diskutiert und versprochen wird, nämlich der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, ist sicher nicht der einzige Faktor.

Brauchen wir auch eine neue Willkommens­kultur, eine andere, als was seit 2015/16 darunter verstanden wird: eine gezielte qualifizierte Zuwanderung, orientiert an Ländern wie Kanada oder Australien, die nur Arbeitskräfte ins Land lassen, die auch benötigt werden?

Wenn wir über Arbeitsmigration sprechen, müssen wir auch über Fähigkeiten sprechen. Wir haben aufgrund von unserer Historie eine gewisse Population, die zu uns migriert, und diese ist schlecht ausgebildet, kommt aus Ländern mit schlechteren Bildungssystemen. Das hat einen Schneeballeffekt: Es kommen die erweiterten sozialen Netzwerke dieser Menschen nach. Die österreichische Wirtschaft hat diese wenig ausgebildeten Arbeitskräfte sehr lange gebraucht, etwa die Gastarbeiter aus der Türkei und Ex-Jugoslawien, aber das hat sich geändert, heute brauchen wir Leute mit Ausbildung. Damit ist gemeint: alles ab Lehre. Wenn man in Österreich einen Lehrabschluss hat, findet man sehr leicht einen Job, ohne Abschluss jedoch wird es schwierig. Die Arbeitslosenquote in Österreich ist glücklicherweise nicht hoch. Nur unter denjenigen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, ist sie sehr hoch – jeder Vierte mit nur Pflichtschulabschluss ist arbeitslos. Im Sinne einer Arbeitsmigration – diese muss man losgelöst von der Flüchtlingsdebatte sehen – wäre es wichtig, dass wir Personen mit Kenntnissen und Fähigkeiten bekommen.

© Thom Trauner

Warum aber geht man nicht nach dem Modell Kanadas oder Australiens vor, die sich die Zuwanderer aussuchen?

Ich glaube, das hat eben mit dieser unserer Historie zu tun. Wenn man einmal viele Menschen von einer Gruppe von Migranten hat, kommen von diesen immer mehr. Ich meine hier nicht nur Familienzusammenführungen, es gibt dann Migrantennetzwerke, die sich gegenseitig helfen, Wohnungen und Jobs zu finden … Ich denke, wir sollten uns weiterhin auf die Menschen konzentrieren, wo schon Netzwerke da sind. Wir haben sehr stark von der EU-Osterweiterung und von Menschen aus dem Balkan profitiert und müssen schauen, dass wir von dort Menschen mit guten Fähigkeiten bekommen.
Wenn wir vom tertiären Bildungsbereich sprechen, halte ich nicht viel von der Strategie, die Unis etwa in Großbritannien verfolgen, die gezielt die chinesischen Studenten fokussieren. Die Situation dort ist eine andere. Im angelsächsischen Raum ist es zuallererst einmal die Sprache, die die Leute anzieht. Außerdem gibt es dort auch schon über die Universitäten ein gutes Netzwerk. Es gibt Leute, die in Großbritannien, den USA oder in Australien studieren und dann dort auch in den Arbeitsmarkt einsteigen. Dadurch haben diese Länder einen großen Vorteil im tertiären Bildungsbereich.

Die hohe Inflation und schwächelnde Konjunktur betreffen sogar die erfolgsverwöhnte US-Technologiebranche, Top-Unternehmen wie Google oder Meta streichen Tausende Stellen. In Österreich werden hoch qualifizierte Entwickler dringend gesucht. Warum sollten qualifizierte Menschen, etwa Entwickler aus dem Silicon Valley, ausgerechnet nach Österreich kommen, ein überbürokratisiertes Hochsteuerland mit hoher Inflation?

Wenn man sich die Gehälter im Silicon Valley ansieht, muss man feststellen, dass wir da mei­lenweit davon entfernt sind. Auch das Umfeld ist viel dynamischer und innovativer. Also, jemanden, der einmal in den USA für Google gearbeitet hat, nach Österreich zu holen, ist sehr schwierig. Es gibt mehrere Punkte, an denen wir arbeiten müssen. Die hohen Steuern hängen natürlich mit der sozialen Sicherheit zusammen, denn diese ist nur durch Steuern zu finanzieren. Man könnte qualifizierten Zuwanderern aber zeitlich befristete Steuer-
er­leichterungen bieten. In Schweden etwa müssen ausländische Schlüsselkräfte auf ein Viertel ihres Einkommens keine Steuern zahlen. Wo wir vermutlich am meisten tun können, ist in der Administration der Zuwanderung. Die Rot-Weiß-Rot-Karte (Anm. d. Red.: eine Kombination aus Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für (hoch-)qualifizierte Arbeitskräfte, besonders Fachkräfte in Mangelberufen und Schlüsselkräfte aus Drittstaaten) war nicht der größte Erfolg. Erst kürzlich wurde berichtet, dass von Jänner bis Mai 2023 um rund 45 Prozent mehr Anträge bewilligt wurden als im Vergleichszeitraum des Vorjahres; es geht hier konkret um rund 3.000 RWR-Karten in diesen fünf Monaten. Im selben Zeitraum wurden aber auch 1.000 Anträge durch das AMS abgelehnt – etwa zwei Drittel davon im Bereich Mangelberufe. Hier ist also die Regierung in der Bringschuld.
Es gibt natürlich aber auch Punkte, wo Österreich gut dasteht: Umwelt, soziale Sicherheit, und wir leben auch in klimatischen Verhältnissen, die noch angenehm sind.

Wir brauchen nicht nur Akademiker, sondern vor allem auch Pflegekräfte, Köche, Elektriker, qualifizierte Menschen in anderen Handwerks- und Lehrberufen. Welche Branchen sind am meisten vom Fachkräftemangel betroffen?

Das größte Problem haben wir in den Branchen, wo die Löhne staatlich geregelt sind. Im privaten Bereich gibt es Kollektivvertragsverhandlungen, und wenn eine Branche mehr Arbeitnehmer braucht, werden die Löhne steigen und auch die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Im Pflegesektor etwa, wo der Großteil der Menschen von öffentlichen Trägern beschäftigt wird, kracht es an allen Ecken und Enden. Die Träger könnten die Löhne erhöhen oder die Arbeitsbedingungen verbessern, da braucht es niemand Dritten dazu. Aber hier geht es um Politik, und nicht der Markt, der flexibler und schneller wäre, regelt das.

Durch den Fachkräftemangel steht bis zu einem gewissen Grad unser Wohlstand auf dem Spiel.

Univ.-Prof. Dr. Martin Halla

Für eine Volkswirtschaft ist der Mangel an Arbeitskräften eine schwere Belastung. Denn nicht nur dem Arbeitsmarkt, auch dem Sozialversicherungssystem gehen die Leute aus. Inwiefern wird er für den Wohlstand zum Problem?

Wenn wir weniger Arbeitskräfte haben, wird weniger produziert, und dann sinkt der Wohlstand. Wenn wir vom Sozialversicherungssystem sprechen, dann reden wir in erster Linie von unseren Pensionen. Es wird ein Problem, diese auszubezahlen, denn es zahlen immer die Jüngeren für die Älteren. Wenn es zu einer weiteren Imbalance kommt, wird es schwierig, denn wir bestreiten schon jetzt einen großen Teil unserer Pensionen aus dem allgemeinen Budget. Fakt ist, wir haben ein sehr niedriges gesetzliches Pensionseintrittsalter und ein noch niedrigeres faktisches Pensionseintrittsalter. Anders gesagt: Wir gehen angesichts der gestiegenen Lebenserwartung zu früh in Pension. In der Politik ist das ein schwieriges Thema, weil hier niemand eingreifen will oder sich traut, um nicht Gefahr zu laufen, einer anderen Partei Wähler zu bringen. Die Politik versucht, dieses offensichtliche Problem in die Zukunft zu verschieben, nach dem Motto „geht schon noch, wird schon“. Natürlich gibt es Leute, die Berufe haben, die man nicht bis ins hohe Alter ausführen kann, aber es ist nicht so, dass wir alle am Hochofen stehen.

Wie schätzen Sie die langfristigen Auswirkungen des Fachkräftemangels auf die Wirtschaft ein?

Einen Teil davon spüren wir jetzt schon, das sind die höheren Preise. Natürlich spielen auch die Konflikte eine Rolle und hat die Geldpolitik der letzten Jahre eine Rolle gespielt. Wenn den Unternehmen die Arbeitskräfte ausgehen und sie höhere Löhne bezahlen und bessere Arbeitsbedingungen schaffen müssen, dann wird auch ein Teil der Preise an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben. Unser Wohlstand steht bis zu einem gewissen Grad auf dem Spiel. Es wird keinen abrupten Abfall geben, aber ein gradueller Abfall kann eintreten. Es kommt nun darauf an, welche politischen Entscheidungen getroffen werden. Wie erfolgreich sind wir in der Attraktivierung Österreichs, damit wir mehr zusätzliche Arbeitskräfte bekommen? Sind wir erfolgreich, dass wir den Gap zwischen Männern und Frauen in der Arbeitsmarktbeteiligung reduzieren, oder gehen wir in die Gegenrichtung: Wollen wir eine 32-Stunden-Woche für alle?

Unterschätzt wird in Diskussionen um den Fachkräftemangel die Rolle der Bildungssysteme. Die Tatsache, dass die Mehrheit heute aufs Gymnasium und auf die Universitäten und Fachhochschulen drängt, wird gemeinhin zwar als positiv gewertet, die Überzeugung, dass ein erfolgreiches Berufsleben heute nur über „mindestens“ das Gymnasium führt, ist aber vielleicht genau das Problem. Wäre eine Aufwertung der Lehre und nicht-akademischer Berufe nicht Teil der Lösung?

Da bin ich vollkommen bei Ihnen. Die Lehre hat ein Imageproblem. Vor allem, wenn man sich das Lebenseinkommen ansieht, ist nicht klar, dass ein höherer Bildungsabschluss immer zu einem höheren Einkommen führt. Ich glaube auch, dass die Breite der Lehrberufe den jungen Leuten nicht bekannt ist. Es gibt sehr anspruchsvolle Lehrberufe im technischen Bereich. Viele Regionen blicken neidvoll auf das österreichische System der dualen Ausbildung, das es in dieser Form global gesehen nur in Österreich, in der Schweiz, in Deutschland und in Dänemark gibt. Weil sich die Hypothese aufdrängt, dass die geringe Jugendarbeitslosigkeit in Österreich mit dem Lehrsystem zusammenhängt. Tatsache ist, wer einen Berufsabschluss hat, ist deutlich weniger von Erwerbslosigkeit betroffen als Personen mit Matura. Die Berufsbildung ist somit im Grunde eine Versicherung dagegen, in der Einkommenspyramide ganz unten zu landen oder gar keinen Job zu bekommen. Dass sich die Lehre mehr an den Bedürfnissen der Unternehmen und des Marktes orientiert, ist ein weiterer Vorteil.

Zur Person

© Thom Trauner

Der 1980 geborene Linzer Univ.-Prof. Dr. Martin Halla studierte Volkswirtschaftslehre an der JKU Linz und ging nach seiner Promotion als PostDoc-Forscher nach Schweden und in die USA. Zurück in Österreich lehrte und forschte Halla drei Jahre lang an der Universität Innsbruck und kehrte danach an die JKU zurück, wo er die Abteilung für Wirtschaftspolitik am Institut für Volkswirtschaftslehre leitete. Leitete – Vergangenheit – deshalb, weil er ab dem kommenden Studienjahr 2023/24 an die WU Wien wechselt, was vor allem damit zu tun hat, dass er seit 13 Jahren zwischen Linz und Wien pendelt, wo seine Familie lebt.
Hallas Forschungsgebiet ist die Angewandte Mikroökonometrie. Er beschäftigt er sich mit Themen wie Arbeitsmarkt, Familie und Gesundheit, empirisch orientiert, das heißt anhand von umfangreichen Datensätzen. Konkret untersucht Halla in seinen Forschungsprojekten etwa die langfristigen Folgen von unterschiedlichen Karenzregelungen für Kinder oder die Wechselbeziehung zwischen Staat und Verhalten und Wohlergehen der Bürger.

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