Heuchelei: Die Diskrepanz zwischen moralischen Idealen und realem Verhalten
Warum wir oft nicht nach unseren Prinzipien handeln
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Hypokrisie oder Heuchelei gilt als Inbegriff der politischen und gesellschaftlichen – ja, menschlichen – Lasterhaftigkeit. Sie wird von demjenigen, der sie betreibt, zumeist nicht als solche erkannt und, bei Entlarvung, schon gar nicht eingestanden. Ersteres unterscheidet sie von der Lüge, die ein bewusstes Täuschungsmanöver ist: Die Heuchelei ist eine unbewusste Selbsttäuschung.
Doch sie hat auch gute Seiten. Als eines der ältesten und gleichzeitig am meisten verachteten moralischen Übel zieht sie sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit: Heuchelei. Sie beschreibt die Diskrepanz zwischen den vorgegebenen moralischen Prinzipien und dem tatsächlichen Verhalten.
Sehr eindrücklich veranschaulicht Martin Luther die Bedeutung von Heuchelei in folgendem Zitat, das gleichzeitig als erster Beleg des Wortes im deutschen Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm geführt wird: „Die Heuchler und Schmeichler sind ärger als die Raben, diese stechen den Toten die Augen aus, die Heuchler und Fuchsschwänzer aber verblenden die Lebendigen, dass sie die Wahrheit nicht sehen können.“
Dass es ausgerechnet der Reformator, Kirchenmann und Judenhasser Luther war, der das Wort Heuchelei im 16. Jahrhundert in die deutsche Hochsprache einführte, erscheint geradezu zynisch. Denn Luthers aggressiver Antijudaismus offenbart eine deutliche Diskrepanz zwischen christlichen Werten wie Nächstenliebe und dem eigenen Denken. Seine hasserfüllten und vor Intoleranz strotzenden Aussagen gegenüber Juden stehen im klaren Gegensatz zu den christlichen Idealen – Heuchelei in Reinkultur.
Heuchelei in der Kirche und bei den Mächtigen
Die Heuchelei bei Kirchenvertretern war ein Thema in der Aufklärung, als Denker wie Voltaire die Kluft zwischen dem Anspruch religiöser Institutionen und ihrem tatsächlichen Verhalten scharf kritisierten. Sei es die Inquisition, der Ablasshandel oder der Machtmissbrauch der kirchlichen Würdenträger, seien es die Hexenprozesse und andere horrende Taten in der Vergangenheit oder die Missbrauchsskandale und deren Vertuschungsversuche in der jüngeren Vergangenheit, sei es die Sexualmoral oder die Verschleierung von Kirchenvermögen, bis heute sieht sich die katholische Kirche mit dem Vorwurf der Scheinheiligkeit konfrontiert.
Doch nicht nur die Vertreter der Kirche, auch die weltlichen Herrschenden müssen sich seit jeher den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen. Wasser predigen und Wein trinken: Im Original stammt die Redewendung aus Heinrich Heines satirischem Versepos mit dem idyllisch klingenden Titel „Deutschland. Ein Wintermärchen“ aus dem Jahr 1844 und lautet wortgetreu: „Ich weiß, sie tranken heimlich Wein / Und predigten öffentlich Wasser.“
Weniger ein deutsches Märchen in winterlicher Idylle als eine explizit spöttische Gesellschaftskritik und Satire auf den politischen und gesellschaftlichen Winterschlaf, in dem sich der Deutsche Bund mit seinen vielen Teilstaaten zur Zeit der Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand, war das Werk lange umstritten. Als antideutsche Schmähschrift diskreditiert, brachte es seinen Autor als Vaterlandsverräter und Schandmaul in Verruf und ihm sogar einen Haftbefehl ein, der bis zu dessen Tod 1856 bestehen blieb.
Zum Verhängnis wurde dem deutschen Dichter der Romantik (geb. 1797), dass er sich dessen verweigerte, wessen er die autoritären, nach dem Vorbild des Absolutismus herrschenden Fürsten und Könige über die deutschen Länder, die auf Repression, Zensur und politische Kontrolle setzten, um den Einfluss liberaler, demokratischer und nationaler Bewegungen zu unterdrücken, in seinem Epos bezichtigte: der Heuchelei.
Zutiefst menschlich
Unter „heucheln“ wird gemeinhin das Vortäuschen einer falschen Moral oder nicht vorhandener Eigenschaften und Haltungen verstanden, wobei „vortäuschen“ impliziert, dass bewusst geheuchelt wird: Eine Person gibt absichtlich vor, moralische Überzeugungen oder Prinzipien zu vertreten, die sie in der Realität nicht lebt. Die bewusste Heuchelei unterscheidet sich kaum von der Lüge, welche Bewusstsein per Definition voraussetzt. Beide basieren auf Täuschung, die Heuchelei ist eine subtilere Form der Lüge.
Häufiger tritt Heuchelei indes in ihrer unbewussten Form auf und ist als solche nicht nur unter den Mächtigen weit verbreitet: Menschen erkennen oft nicht, dass sie nicht im Einklang mit den Werten, die sie öffentlich vertreten, stehen, dass ihr Verhalten den eigenen Überzeugungen widerspricht.
Selbsttäuschung ist ein psychologischer Mechanismus, der dann stattfindet, wenn Menschen so fest von ihren eigenen Überzeugungen und Handlungen sowie von ihrer moralischen Integrität überzeugt sind, dass sie die Widersprüchlichkeiten im eigenen Denken und Handeln nicht erkennen oder es rechtfertigen.
Wir sind alle Heuchler – und das ist nicht nur schlecht.
Sie halten sich für moralisch im Recht, auch wenn andere ihr Verhalten als heuchlerisch wahrnehmen. Der Hauptgrund für Heuchelei ist demnach die menschliche Natur selbst. Menschen sind komplexe Wesen, die stets zwischen idealistischen Vorstellungen und realen Versuchungen schwanken. Heuchelei ist auch ein Symptom für die Kluft zwischen dem, was wir sein wollen, und dem, was wir sind. Beispiele für heuchlerisches Verhalten gibt es viele. Greenwashing, die Marketingstrategie, bei der Unternehmen nach außen Umweltfreundlichkeit und ein grünes Image propagieren, anstatt in tatsächliche nachhaltige Maßnahmen zu investieren.
Zu betonen, wie wichtig einem der Umweltschutz sei, aber Billigflüge für Ziele nutzen, die auch mit der Bahn erreichbar wären, und ständig neue Elektronik sowie Kleidung kaufen, ohne an Nachhaltigkeit zu denken. Die Unterstützung autoritärer Regime, wenn diese dem eigenen Land wirtschaftliche Vorteile bringt – all dies fällt unter die Kategorie Heuchelei.
Heuchelei und Politik
Heuchelei zeigt sich dort, wo gesellschaftlich akzeptierte Werte und Prinzipien instrumentalisiert werden, um moralische Überlegenheit oder Rechtfertigung für Machtansprüche zu behaupten. Der Begriff der Heuchelei wird heute besonders häufig im politischen Kontext verwendet, da Politik per Definition von dem Umgang mit widersprüchlichen Interessen geprägt ist.
Politiker vertreten nach außen gewisse Prinzipien, sind aber in der Praxis nicht immer in der Lage, diese konsequent umzusetzen. Dass politische Parteien links der Mitte anfälliger für den Vorwurf der Heuchelei sind, liegt daran, dass sie explizit für moralische Werte wie soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Umweltschutz eintreten – hohe ethische und moralische Prinzipien, die in der Praxis nicht vollständig zu realisieren sind.
Der Anspruch, ethisch zu handeln, steht allzu oft im Widerspruch zu den Kompromissen und pragmatischen Entscheidungen, die in einer Demokratie notwendig sind – wie auch zur Lebensrealität im Allgemeinen. Dass eine Politik, die sich stark auf moralische Prinzipien stützt und als Verteidigerin der Rechte von Minderheiten, Arbeitern und Benachteiligten auftritt, eher Gefahr läuft, als heuchlerisch wahrgenommen zu werden, leuchtet unmittelbar ein.
Während linke Parteien unter größerem Druck stehen, ihre Prinzipien konsistent zu verfolgen, stellen rechte Parteien weniger moralische Ansprüche an ihre eigenen Handlungen. Den Rechten wird häufig das genaue Gegenteil von Heuchelei zum Verhängnis, nämlich das ungeschönte Aussprechen der Wahrheit oder zumindest dessen, was unter Wahrheit verstanden wird.
Das linke Narrativ, dass Migration den Aufnahmeländern bedingungslos nütze und bereichere, oder die Aussage Donald Trumps, dass haitianische Migranten die Haustiere der Amerikaner essen würden – beide Aussagen sind, die Motive außer Acht lassend, Lügen. Erstere impliziert zudem eine Heuchelei, nämlich diejenige, sich moralisch überlegen darstellen zu wollen. Überdies zeugen Aussagen wie diese schlicht von Irrationalität. Da hohe moralische Ansprüche an unrealistische Ideale geknüpft sind, gehen Heuchelei und Irrationalität in der Politik oft Hand in Hand.
Wir sind alle Heuchler
„Ich sprach in meiner Bestürzung: ‚Alle Menschen sind Lügner!‘“ So heißt es (schon wieder die Kirche!) in Psalm 116, 11. Obgleich die Bibel als religiös-spirituelles Buch nicht für ihren Realismus bekannt ist, enthält sie viele tiefgründige realistische Einsichten in die menschliche Natur, in menschliche Schwächen und moralische Dilemmata, die universell und zeitlos sind.
So auch die im Psalm ausgedrückte Wahrheit, die gleichermaßen für das Heucheln gilt, die eine spezielle Form des Lügens darstellt. Der Unterschied zwischen Heuchelei und Lüge besteht darin, dass, während der Lügner andere belügt, der Heuchler vor allem sich selbst belügt. Heuchelei ist Selbstbetrug. Was die Lüge verrät, ist die Wahrheit. Die Enthüllerin der Heuchelei dagegen ist die Selbstreflexion.
Was die Bibel verschweigt, ist, dass das Laster der Heuchelei nicht nur schädlich und verwerflich ist, sondern dass ihm auch Positives abgewonnen werden kann. Heuchelei gedeiht in einem Klima, in dem Menschen das Gefühl haben, eine bestimmte Fassade aufrechterhalten zu müssen, um gesellschaftlich akzeptiert oder respektiert zu werden. Eine solche Fassade bedingt funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben.
Die ambivalente Rolle der Heuchelei in der Gesellschaft
Indem ein Heuchler so tut, als sei er tugendhaft, zeigt er, dass er die Bedeutung der Tugend und ihren hohen sozialen Wert zumindest anerkennt. Eine Gesellschaft, die vorgibt, für Gerechtigkeit, Gleichheit oder Umweltschutz einzutreten, selbst wenn dies oft heuchlerisch ist, drängt zumindest in die Richtung, dass diese Werte erstrebenswert bleiben.
Heuchelei ermöglicht es, moralische Ideale zu bewahren, selbst wenn diese nicht vollständig umgesetzt werden können. Es gibt gesellschaftliche Konventionen und Höflichkeitsformen, die geradezu zur Heuchelei zwingen. Dass wir uns meistens auch dann freundlich und respektvoll gegenüber unseren Mitmenschen verhalten, wenn wir innerlich eine andere Haltung einnehmen, ist diesem Phänomen geschuldet. Diese Art von „Höflichkeitsheuchelei“ sorgt dafür, dass das soziale Leben nicht durch ständige Konflikte und offene Feindseligkeiten erschwert wird.
Die Sinnhaftigkeit des Heuchelns liegt auf der Hand: Indem sie hilft, die Fassade der Harmonie aufrechtzuerhalten, selbst wenn es unter der Oberfläche Abweichungen gibt, kann Heuchelei ein Mittel der sozialen Ordnung sein. Sie hilft, soziale Spannungen zu entschärfen, Konflikte zu vermeiden und das gesellschaftliche Zusammenleben zu erleichtern. Eine Gesellschaft ohne Heuchelei scheint somit nur auf den ersten Blick attraktiv. Auf den zweiten ist sie eine Dystopie – ein Albtraum.
Die goldene Mitte
Eine übermäßige Moral ist keine Moral, sondern bestenfalls dogmatischer, rigider Moralismus. Was für die Moral gilt, zählt auch für die Heuchelei: Entscheidend ist das richtige Maß. Der griechische Ausdruck „Mesotes“ beschreibt gut, wessen es vielen häufig mangelt, ob es um Politik, die eigene Lebensführung, das soziale Miteinander oder den Umgang mit neuen Herausforderungen geht.
Mesotes ist die Lehre von der Tugend als einer Mitte zwischen dem Übermaß und dem Mangel, zwischen dem Zuviel und Zuwenig und ist somit Grundprinzip einer Ethik, nach welcher die Extreme vermieden werden sollen.
In Bezug auf Heuchelei liegt die Kunst darin, die Balance zu finden zwischen Ehrlichkeit, Authentizität und notwendiger Anpassung an die sozialen Erwartungen und Bedürfnisse anderer. Das richtige Maß zu finden ist in der Tat eine Kunst, denn der Grat zwischen Aufrichtigkeit und Heuchelei ist schmal.
Um es zu erlangen, bedarf es – wie Aristoteles erkannte – des Ausschlags zum Entgegengesetzten, damit das Maßvolle und Mittlere für alles Seiende erreicht werden kann. Insofern sind Extreme nicht nur hilfreich, sondern bilden sogar die Voraussetzung, um die Balance zu finden und das Maßvolle in allem zu erreichen.
Heuchelei ist ein tief verwurzeltes menschliches Phänomen, das nie ganz verschwinden wird. Der deutsche Dichter der Aufklärung Christoph Martin Wieland traf es mit folgenden Worten in seinem Essay „Bonifaz
Schleichers Jugendgeschichte“ von 1776: „Wiewohl alle Menschen mehr oder weniger zum Heucheln geneigt sind – doch nur derjenige ein Heuchler heißt, der es in einem so hohen Grade ist, daß wir andern, mit ihm verglichen, für aufrichtige Leute gelten können.“
Niemand ist vor der verführerischen Schwester der Lüge gefeit. Doch die Heuchelei sollte nicht zum Habitus werden. Heuchler sind noch unbeliebter als Lügner.
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