Liebes Tagebuch…: Schreibtrainerin Alexandra Epischer im Interview
Ob als Mittel zur Selbstreflexion oder als Weg zur Selbstfindung: Wie Tagebuchschreiben Ordnung in unsere Gedankenwelt bringt.
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Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Tagebuch: ein rosafarbenes von Diddl, mit einem kleinen Schloss, das nur mit einem winzigen Schlüssel zu öffnen war – damit auch ja niemand meine innersten Gedanken lesen konnte. Ganz so spektakulär waren meine Einträge mit acht Jahren noch nicht, und auch meine Rechtschreibung war mehr schlecht als recht (wie man bei meinem allerersten Eintrag auf dem Foto rechts sehen kann). Trotzdem weiß ich heute, mehr als 20 Jahre später, immer noch, wie ich damals auf einem Kindergeburtstag im Zoo ein Kamel streicheln durfte.
Vom Glitzernotizbuch zum Gedankenarchiv
Je älter ich wurde, desto mehr veränderten sich auch meine Tagebücher: Aus Diddl wurden einfache Notizbücher, aus knalligen rosa Einbänden wurden schwarze Kladden und aus den Einträgen über Kindergeburtstage wurden Gedanken über Freundschaften, erstes Verliebtsein, Unsicherheiten und große Pläne. In den letzten Jahren bin ich allerdings weit weniger konsequent gewesen. Oft vergehen Monate, in denen ich gar nichts aufschreibe – und dann gibt es wieder Tage, an denen ich nach dem Aufwachen sofort zum Stift greife. Statt langer Geschichten über meinen Alltag beantworte ich heute meist nur eine einzige Frage: „Was beschäftigt mich gerade?“
Eine Festplatte für Gedanken
Eine Arbeitskollegin sagte letztens: „Ein Tagebuch ist wie eine externe Festplatte, auf der wir unsere Gedanken speichern können.“ Und ich finde, das trifft es ziemlich gut. Vor allem dann, wenn es im Kopf einmal wieder unübersichtlich wird. Denn Schreiben ist auch ein neurologischer Prozess. Studien zeigen, dass Schreiben über Erlebtes, Gedanken und Emotionen messbare Effekte im Gehirn auslöst: Bereiche, die für emotionale Regulation zuständig sind, werden aktiver, während Stresszentren wie die Amygdala ruhiger arbeiten. Besonders beim handschriftlichen Schreiben werden sensorische Hirnareale zusätzlich aktiviert. Ein Grund, warum wir uns beim Schreiben oft tiefer verbunden mit uns selbst fühlen als beim bloßen Nachdenken.
Wenn Worte Halt geben
Viele Menschen greifen übrigens gerade dann zum Tagebuch, wenn es ihnen nicht gut geht – in Phasen von Stress, Trauer oder innerer Unruhe. Und auch wenn das Schreiben kein Allheilmittel ist, kann es ein gutes Ventil sein. Denn oft hilft es schon, um Gedanken zu sortieren, sie zu benennen oder zumindest einfach kurz abzulegen und aus dem Kopf zu bekommen. Ob frei fließend, strukturiert, mit Fragen oder in Listenform – beim Tagebuchschreiben ist wirklich alles erlaubt.
Wir haben mit einer Schreibpädagogin gesprochen und verschiedene Ansätze gesammelt, wie man wieder ins Schreiben kommen kann – oder neu damit beginnt. Und wenn es mal gar nichts zu sagen gibt? Dann gilt einfach, wie Franz Kafka einst schrieb: „Heute nichts geschrieben.“ Denn manchmal ist auch das völlig ausreichend.

Welche Wirkung hat es, wenn wir Gedanken und Gefühle aufschreiben?
Alexandra Peischer: Schreiben hat unzählige Wirkungen! Es entspannt und verlangsamt uns, beruhigt unser Nervensystem, ja kann sogar den Blutdruck senken und andere körperliche Beschwerden verringern – das ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Es verbindet uns mit Gefühlen, unbewussten Ängsten oder Wünschen und bringt Klarheit ins Gedankenchaos. Schreiben reguliert Emotionen, wirkt befreiend und stärkt, weil Ressourcen sichtbar werden. Mit ressourcenorientierten Techniken oder Journaling-Fragen lässt sich der Fokus gezielt auf das Positive lenken – das fördert Dankbarkeit, Zufriedenheit und letztendlich auch Selbstwirksamkeit.
Gibt es einen Unterschied zwischen Handschrift und Tippen?
Ja, die gibt es! Mit der Hand habe ich eine direkte Verbindung zum Körper, zum Herzen und damit zu meinen Gefühlen – ohne technische Barriere dazwischen. Handschreiben verlangsamt, fördert den Schreibfluss und unterbricht ihn nicht durch Autokorrektur oder Rechtschreibprogramme, die einen ständig stocken lassen. Aus der Hirnforschung wissen wir außerdem, dass es andere Hirnareale aktiviert als das Tippen und uns schneller in die Freude und Kreativität zurückbringt.
Wie häufig und wie lange sollte man idealerweise schreiben?
Da gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Ich würde sagen: je nach Ziel. Wer das Schreiben zur Gewohnheit und zum Ritual machen will, um die eigene Psyche zu erkunden oder sich selbst besser kennenzulernen, sollte möglichst täglich schreiben – mindestens drei Wochen, besser drei Monate. Wer aus Lust und Freude schreibt, oder sich etwas von der Seele schreiben möchte, kann es auch nur gelegentlich tun. Hier gibt es kein „Muss“ und keine Vorgaben. Wenn ich mit dem Tagebuchschreiben eine Dokumentation bezwecke, ist regelmäßiges Schreiben wiederum sehr sinnvoll. Wie lange die einzelnen Schreibzeiten sind, ist jedoch sehr individuell.
Wie lässt sich Tagebuchschreiben im Alltag verankern, ohne dass es sich nach einem „Pflichtprogramm“ anfühlt?
Indem ich es nicht zur Pflicht mache, sondern als lustvolles Ausprobieren, Experimentieren, als kreativen Ausdruck meines Selbst sehe. Schöne Schreibmaterialien, bunte Stifte oder das Schreiben mit Zeichnen zu verbinden, kann Freude bringen. Wichtig ist, keinen Anspruch auf „gute“ Texte zu haben: Schreiben darf leicht und freudvoll sein, dann ist es auch keine Pflicht. Je öfter ich lustvoll schreibe, desto selbstverständlicher wird das Schreiben auch zum wichtigen Teil meines Alltags.
Und noch ein letzter Tipp: Gemeinschaft motiviert – wie etwa in Schreibgruppen, Kreativräumen oder durch den Austausch mit anderen Schreibfreudigen.
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Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.