Eine Frau liegt auf einem bett und greift mit den Händen in die Haare

Jungfrau mit 30 – na und?

Jungfrau, 30, weiblich, sucht... ein Umdenken in der Gesellschaft.

10 Min.

© Pexels/Matvalina

Aktivistin Nine und Sexualpädagogin Lea Pöder über Druck und Scham vor ersten intimen Handlungen – vor allem, wenn sie nicht im Teenageralter stattfinden.

Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal Sex hatten? Laut Studien werden Österreicher:innen im Durchschnitt im Alter von 16,3 Jahren sexuell aktiv. Damit werden Österreichs Jugendliche eher früher intim als der Rest der EU. Was aber, wenn man später dran ist? Was, wenn es sich nicht um ein paar Monate oder wenige Jahre handelt, sondern wenn man mit 30 noch keinen Sex hatte? Man könnte sich jetzt vorstellen, dass es nichts zu bedeuten hätte und egal wäre, denn: Hatte man noch keinen Sex, kann man vielleicht nicht immer mitreden, aber im Alltag gibt es wohl genügend andere Themen zum Besprechen mit Freund:innen, Kolleg:innen und Bekanntschaften.

Aber ganz so einfach sei das nicht, erklärt Nine im Gespräch mit uns. Sie muss es wissen: Nine ist 30 Jahre alt und hatte noch nie Sex. Seit einigen Monaten spricht sie darüber auf Instagram auf ihrem Account „Nineistlaut“, in Fernsehtalkshows und Pod-casts. Wichtig ist dabei, dass Nine nicht aufgrund ihrer Religion, ihres Glaubens oder einem (unfreiwilligen) Zölibat keine intimen Handlungen erlebt hat, sondern sie es bisher schlichtweg nicht wollte – und damit ist sie nicht allein. Dass sie so viel Aufmerksamkeit mit dem Thema erlangen würde, kam etwas überraschend, doch ihr Ziel war von Anfang an klar: Sichtbarkeit und einen sicheren Rahmen für Betroffene schaffen.

„Es ist ein emotionales und intimes Thema, das tabuisiert und sehr schambehaftet ist. Ich versuche, einen Safe Space zu schaffen, in dem ich ganz ehrlich darüber spreche und mich auch selbst so verletzlich wie möglich zeige. Das findet Anklang. Ich kriege rührende Nachrichten, in denen Leute sagen, dass sie sich zum ersten Mal gehört und gesehen fühlen und dass sie dadurch das Gefühl haben, sie können so sein, wie sie sind, und den Mut haben, ihren eigenen Weg zu gehen“, so Nine. Man kennt es gut, das eigene Sexualleben wird gerne von anderen kommentiert und bietet ungewollt Raum für Interpretationen. Hat man zu viele Sexualpartner:innen, gilt man vielleicht als „leicht zu haben“, hat man keinen Sex, fühlen sich bestimmte Menschen irritiert, weil das „unnatürlich“ sei. Nine kämpft für ein Umdenken, denn Sexualität von anderen sollte kein Diskussionsstoff sein: „Ich sage es immer wieder: Ich bin nicht unschuldiger oder mehr wert als eine Frau, die einen vermeintlich hohen Bodycount hat, die sehr viel Sex hat oder sehr offen ist.“

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Lea Pöder, Sexualpädagogin beim Kollektiv LOU, merkt im Interview mit uns dazu an: In der Gesellschaft sei zwar vieles sexualisiert, allerdings werde wenig über Sex geredet. Hat man im Erwachsenenalter keinen Sex, führe das oft zu Irritation. „Jungfräulichkeit wird im Erwachsenenalter oft mit Menschen assoziiert, die außerhalb von bestimmten Schönheitsnormen verortet werden oder wenig soziale Kontakte pflegen und damit sozial isoliert sind“, schätzt die Expertin ein. Dass das oftmals eine Fehleinschätzung von außen ist, erklärt sich von selbst. Nine will ebenfalls mit diesen Vorurteilen aufräumen.

Wo beginnt Sex überhaupt?

Eine vermeintlich simple Frage, die aber durchaus bedeutend ist und bei genauerem Hinschauen auch zum Nachdenken anregt: Für die meisten bedeutet Sex penetrativer vaginaler Sex. Dann könnten aber beispielsweise queere Paare keinen Sex haben, was natürlich so nicht stimmt. „Beim Sex geht es um ein Erregungsgefühl, das die meisten Menschen in den Genitalien spüren. Sex ist all das, was Menschen machen, um dieses genitale Erregungsgefühl zu steigern“, klärt Sexualpädagogin Pöder auf. Somit kann Sex für jeden Menschen anders definiert werden. Dann kommt noch dazu: Der Mythos Jungfräulichkeit ist zwar weit verbreitet, aber die genaue Definition ist ebenfalls nicht einheitlich klar – wie sollte sie auch, wenn es nicht einmal ein universelles Verständnis von „Wo beginnt Sex“ gibt? „Insbesondere die weiblichen Jugendlichen sind besorgt, da der Mythos eines Jungfernhäutchens noch sehr weit verbreitet ist und in vielen Lebenswelten sehr präsent ist. Viele Menschen wissen nicht, dass das Hymen, das ‚Jungfernhäutchen‘ in den allermeisten Fällen gar nicht verschlossen, sondern ein Hautkranz ist, der um die Vagina liegt. Die Jungfräulichkeit, die durch das Durchstechen eines Penis durch das Hymen beendet wird, gibt es also nicht“, führt Pöder fort.

Es gehe bei dem Konstrukt der Jungfräulichkeit auch oft um soziale Normen und darum, wann der richtige Zeitpunkt für Intimität gegeben sei – die Sexualpädagogin merke oft, dass der Druck dadurch vor allem bei Jugendlichen enorm steigt. „Das liegt unter anderem auch an der starken Tabuisierung des Themas Sexualität in unserer Gesellschaft, welche besonders Frauen und weiblich gelesene Personen immer noch sehr stark betrifft. Werden Normen nicht besprochen, können sie auch nicht aufgebrochen werden“, stellt die Pädagogin klar. Nun sagt auch Aktivistin Nine von sich selbst ganz bewusst und spielerisch: „Ich bin Jungfrau mit 30.“ Um zu provozieren, um zum Nachdenken anzuregen und Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie will klarstellen: Es ist vollkommen in Ordnung, keinen Sex zu haben. Und: Man ist nicht allein. Sie will mit dem Klischee aufräumen, dass etwas nicht stimmen könnte, wenn man mit Ü20 noch nie Sex hatte, oder dass man gar komisch oder einsam sei.

Welche Gründe gibt es, keinen Sex zu haben?

Es gibt Unmengen an Gründen, wieso man im Erwachsenenalter noch keinen Sex hatte. Manchmal kann es so simpel wie logisch sein: Wenn man kaum datet, niemanden kennenlernt, den man gerne mag, dann will man auch nicht sexuell aktiv werden. Dann kann man schnell später dran sein als die anderen und sich schneller in gewissen Situationen unwohl fühlen. Bei Aktivistin Nine war es stets eine aktive Entscheidung gegen Sex, was aber nicht andere sexuelle Handlungen ausgeschlossen hat. Sie spricht auch offen von Intimitätsangst und davon, dass Dating für sie einfach keine Priorität hatte.

Zudem identifiziert sie sich als demisexuell, empfindet also sexuelle Anziehung nur, wenn eine starke emotionale Bindung zur anderen Person aufgebaut wurde. „Ich hätte es auch darauf ankommen lassen können, es trotzdem mit Angst machen können, aber es hat sich für mich nicht richtig angefühlt, und mein Körper hat mir signalisiert, dass er nicht dafür bereit ist.“ Vor allem junge Frauen würden ihr schreiben, dass sie es trotz Angst schlussendlich einfach hinter sich gebracht hätten, laut Nine wegen Druck von außen, mitreden zu können und sich nicht immer rechtfertigen zu müssen. Nicht gerade ein romantischer Grund für Sex – und fremdbestimmt. Dieser Zugang sollte sich dringend ändern, sind sich die Aktivistin und die Sexualpädagogin einig.

Wie das Umfeld reagiert

Woher kommt der Druck von außen, der jemanden dazu bewegt, das Intimste der Welt einfach „hinter sich“ bringen zu wollen? Laut Nine hätte ihr Umfeld stets entspannt, verständnisvoll und offen reagiert, dennoch hätte sie immer mehr Druck bezüglich ihrer Sexualität gespürt, je älter sie wurde. Irgendwann wären ihre Flirts einfach davon ausgegangen, dass sie – so wie vermeintlich alle anderen – bereits Sex hatte, und wären dann gerne schneller intim geworden: „Das war dann immer ein Schocker. Es macht es auch schwieriger, erste Erfahrungen zu machen, weil alle anderen schon viel weiter sind und schon ganz andere Sachen erwarten. Wenn man mit 18 auf einer Party knutscht, ist das für viele keine große Sache, für dich aber schon.“

Der Druck, einer gesellschaftlichen Norm und Erwartung nicht zu entsprechen, kann sich individuell sehr unterschiedlich auf Personen auswirken. „Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die weibliche Sexualität gesellschaftlich tabuisierter ist und viel stärker bewertet wird als die männliche. In Bezug auf sexuelle Orientierung ist klar, dass jene Personen außerhalb der Cis-Heterosexualität stärker mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu kämpfen haben. Das macht es für Frauen und nicht heterosexuelle Menschen schwer, offen über Sexualität zu sprechen und damit auch einen Zugang kennenzulernen, der Menschen dazu ermutigt, Sexualität selbstbestimmt und gelingend zu gestalten“, führt Pädagogin Pöder weiter aus.

Doch: „Gleichzeitig ist vermutlich auch sexuelle Inaktivität im Kontext von Männlichkeit sehr schambehaftet und daher auch nicht gut ansprechbar. Das sind alles zusätzliche Barrieren, die durch soziale Normen bestimmt werden und den Druck individuell spürbar machen.“ Druck und Scham können daher zwar unterschiedlichen Ursprungs sein, darunter leiden können aber alle Geschlechter. Das Wichtigste, so Lea Pöder und Nine, sei der Austausch mit Freund:innen und Gleichgesinnten. Dennoch ist das Lernen, mit Druck umzugehen, von Person zu Person sehr unterschiedlich. Sollte der Druck zu groß werden, sollte psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung in Erwägung gezogen werden, hält Pöder fest.

Jungfrau mit 30 – ein Hindernis beim Daten?

In einer Welt voller Online-Dating, Bindungsangst und Situationships ist die Suche nach Liebe gar nicht so einfach. Generell nicht, mit so einem intimen Geheimnis erst recht nicht. Muss man dann von vornherein so transparent sein und die „Jungfräulichkeit“ erwähnen? Wie Nine erzählt, habe sie damit meistens keine guten Erfahrungen gemacht, potenzielle Dates seien daraufhin nicht mehr entstanden und Menschen hätten sich zurückgezogen. Auch andere Betroffene hätten ihr auf Social Media ähnliche Erlebnisse erzählt. Es könne vorkommen, dass man sich dann fragt: Ist es zu viel Druck? Zu mühsam? Stimmt etwas nicht?

Wie die Aktivistin selbst sagt, sei ihr das egal, sie wolle es weiterhin immer ehrlich kommunizieren, weil es ein wichtiger Teil von ihr ist. Aber sie betont, dass das jede Person für sich selbst entscheiden sollte. So könnte es für einige entlastend sein, für andere jedoch den Druck sogar noch mehr steigern. Hier beginne bereits ein wichtiger Schritt zur Selbstbestimmung. Die Aktivistin betont zudem, dass sie ihre „Jungfräulichkeit“ im Erwachsenenalter mittlerweile auch differenzierter betrachten könne: Mit 30 wisse sie viel eher, was sie möchte und was sie nicht möchte. „Das Körpergefühl und das Selbstbewusstsein, das ich jetzt habe, das kann mir niemand erzählen, dass das das Gleiche ist, wie wenn du mit 16 zum ersten Mal Sex hast. Fragt doch mal andere, wie gut der Sex war, den sie von 16 bis 25 hatten? Ich wette, da stand eher die männliche Lust im Vordergrund. Ich frage mich daher schon: Was habe ich da wirklich verpasst?“

Was die Gesellschaft besser machen kann

Wie kann man Druck und Scham loswerden und Spaß an der, salopp gesagt, schönsten Sache der Welt finden, egal in welchem Alter? Sexualpädagogin Pöder plädiert für eine Enttabuisierung des Themas Sexualität im Allgemeinen. Dafür brauche es einerseits regelmäßige und professionelle sexualpädagogische Angebote im Rahmen unseres Bildungssystems sowie andererseits Räume, in denen unaufgeregt über das Thema gesprochen werden kann und in denen Fragen gestellt werden können. Nur so könne man Mythen aufbrechen und Normen hinterfragen.

„Es kann eine Perspektive auf Sexualität etabliert werden, die eine selbstbestimmte Sexualität in den Fokus nimmt und abseits normativer Skripte funktioniert. Außerdem bieten diese Räume einen medienpädagogischen Mehrwert, auch wenn sie nicht dezidiert medienpädagogisch sind. Doch wenn es Möglichkeiten gibt, über das Thema zu sprechen, und eine Atmosphäre geschaffen werden kann, in der Fragen gestellt werden können, muss das Internet nicht mehr als die einzige Quelle zur Beschaffung von Informationen herhalten.“ Denn Sexualität sollte niemals etwas sein, wofür man sich schämen muss – solange das immer im Konsens mit allen anderen beteiligten Personen ist. Darüber reden zu können und andere Lebensrealitäten kennenzulernen, könne Scham abbauen, ist sich die Expertin sicher. „In der Gesellschaft wird Sexualität häufig mit moralischen Vorstellungen verknüpft und Sexualpädagogik dazu benutzt, bestimmte Werte zu vermitteln oder Sexualität zu unterdrücken, und dies sollte vermieden werden. Es geht um die Entscheidungsmöglichkeit und das Angebot, Alternativen kennenzulernen.“ Aktivistin Nine betont ebenfalls die Wichtigkeit von Austausch mit anderen und eines unterstützenden Umfelds, um Grenzen erkennen und definieren zu können – und ergänzt: „Feier dich und embrace deine Entscheidungen, denn das bist einfach du.“

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