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Wenn das Streben nach einem besseren, fitteren Ich nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche belastet, spricht man vom sogenannten „Healthism“.
Jeden Tag Sport, keine Ausreden. Kohlenhydrate? Tabu. Ein Glas Wein oder ein Stück Kuchen? Undenkbar. Wer heutzutage etwas auf sich hält, darf sich nichts zu Schulden kommen lassen. Perfekte Körper und vermeintlich gesunde Lifestyles in den sozialen Medien tun ihr Übriges. Doch wo hört gesunde Disziplin auf und wo beginnt zwanghafte Selbstoptimierung?
„Wir bewegen uns zu wenig“, heißt es oft. Tatsächlich erreichen viele nicht einmal die von der WHO empfohlenen 150 Minuten moderater Aktivität pro Woche. Die Gründe sind vielfältig: lange Arbeitstage vor Bildschirmen, Haushalt, Kinderbetreuung und andere Verpflichtungen lassen wenig Raum für regelmäßige Bewegung. Und das betrifft vor allem Frauen, wie eine US-Studie zeigt. Frauen haben im Schnitt 13 Prozent weniger Freizeit als Männer, weil sie den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen. Und so erfüllen nur 33 Prozent der Frauen die wöchentlichen Sportempfehlungen, bei Männern sind es 43 Prozent.
Eine problematische Entwicklung, wenn man bedenkt, dass ein akuter Bewegungsmangel mit chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Problemen, Diabetes oder Adipositas einhergeht, deren Zahlen gerade in der westlichen Welt alarmierend ansteigen und das Gesundheitssystem an ihre Grenzen bringen. Auf der anderen Seite werden wir mit „What I eat in a day“-Videos und Fitness-Challenges auf Instagram, TikTok & Co überhäuft und fühlen uns mehr und mehr unter Druck gesetzt.
Unterschätzte Gefahr
„Unsere Gesellschaft bewegt sich oft zwischen zwei Extremen. Einerseits gibt es immer mehr Menschen mit Bewegungsmangel und daraus resultierenden Zivilisationskrankheiten. Andererseits gibt es jene, die Gesundheit extrem ernst nehmen – manchmal so sehr, dass es ungesund wird“, erzählt uns Sportmediziner Dr. Robert Fritz. Fakt ist, immer mehr Menschen verschreiben sich der Selbstoptimierung. Sie tracken ihren Schlaf, essen ihre Mahlzeiten nach festen Zeitplänen, gehen beim Sport regelmäßig über ihre Grenzen oder verzichten auf ganze Nahrungsmittelgruppen.

Wie gefährlich das sein kann, weiß Sportwissenschafterin und Mentaltrainerin Dr. Elisabeth Bräuer: „Gerade die Kombination von exzessivem Training und strikter Ernährung kann zu psychischen Belastungen führen. Es gibt klare Parallelen zu Angst- und Essstörungen, da diese oft mit dem Bedürfnis nach Kontrolle zusammenhängen.“
Genauso wie wir lernen müssen, mit neuen Technologien wie KI umzugehen, sollten wir auch lernen, Gesundheitsinformationen richtig zu bewerten
Dr. Robert Fritz, Sportmediziner
Gesundheit als Privileg
Gesundheit und Fitness sind längst nicht mehr nur persönliche Anliegen, sie sind auch ein Statussymbol. Der Soziologe Friedrich Schorb beschreibt in seinem Buch „Healthism“, dass körperliche Fitness heute eng mit der gesellschaftlichen Stellung verknüpft ist. Gesundheit wurde im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Abgrenzungsmerkmal. Dabei sei es letztendlich eine Frage des Geldes, ob man sich einen auf Gesundheit fokussierten Lebensstil überhaupt leisten könne. Strukturelle Defizite, wie finanzielle Engpässe oder fehlende Betreuungsmöglichkeiten, werden oft ignoriert oder als mangelnde Eigenverantwortung abgetan.
Es gehe nicht unbedingt darum, ob man sich das Training im Fitnessstudio leisten kann, sondern ob man überhaupt den Kopf frei hat, sich über gesunde Ernährung und sportliche Betätigung Gedanken zu machen. Wer alleinerziehend ist, in einem fordernden Job steckt oder täglich zahlreiche Verpflichtungen jongliert, hat oft schlicht keinen Spielraum für eine perfekte Gesundheitsroutine. Gesundheit und Fitness werden dann zum Luxusgut.
Falsche Vorbilder
Soziale Netzwerke tragen ihren Teil zur Gesundheitsfixierung bei. Fitness-Influencer:innen mit durchtrainierten Körpern und perfekten Ernährungsplänen suggerieren eine Machbarkeit, die oft nichts mit der Realität zu tun hat. „Nicht alle, aber viele dieser Inhalte sind irreführend. Die Zahl der Follower sagt nichts über die Qualität der Inhalte aus. Genauso wie wir lernen müssen, mit neuen Technologien wie KI umzugehen, sollten wir auch lernen, Gesundheitsinformationen richtig zu bewerten“, so der Sportmediziner.
Doch wann wird aus einer gesunden Lebensweise eine ungesunde Besessenheit? Laut Dr. Bräuer gibt es klare Anzeichen, an denen sich zwanghafte Selbstoptimierung erkennen lässt. Besonders auffällig sei es, wenn sich der gesamte Alltag nur noch um das nächste Work-out oder die optimale Makronährstoffverteilung dreht. Wer ständig Einladungen zu Treffen mit Freund:innen ausschlägt, weil das Fitnessstudio oder die strenge Ernährungsroutine Vorrang hat, sollte sein Verhalten kritisch hinterfragen. Auch das Gefühl, nach einem Tag ohne Sport versagt zu haben, könne darauf hinweisen, dass die körperliche Aktivität nicht mehr aus einer intrinsischen Motivation heraus, sondern aus einem zwanghaften Bedürfnis nach Kontrolle erfolgt.
Gesundheit bedeutet nicht nur körperliches Wohlbefinden, sondern auch mentale Ausgeglichenheit.
Dr. Elisabeth Bräuer, Sportwissenschafterin und Mentaltrainerin
„Jeder Ernährungstrend wie etwa Intervallfasten oder Veganismus hat für sich genommen seine Berechtigung, aber es gibt keine Lösung, die für alle passt. Gesunde Ernährung bedeutet Vielfalt und Ausgewogenheit. Wer bestimmte Lebensmittelgruppen ohne medizinische Notwendigkeit kategorisch meidet oder Schuldgefühle nach bestimmten Mahlzeiten hat, sollte sich fragen, ob das noch gesund ist“, erklärt Dr. Fritz. Problematisch werde es auch, wenn körperliche Warnsignale ignoriert werden. Wer trotz Schmerzen weitertrainiert oder sich selbst zu intensiven Work-outs zwingt, obwohl der Körper offensichtlich nach Erholung verlangt, riskiert langfristige Schäden. Exzessives Training kann zu Überlastungsverletzungen, chronischer Erschöpfung und hormonellen Problemen führen.
Gesundheitskompetenz
Um sich nicht von extremen Fitness- und Ernährungsmythen in die Irre führen zu lassen, braucht es ein solides Verständnis davon, was dem Körper wirklich guttut. Gesundheitskompetenz bedeutet, fundierte Informationen von unseriösen Versprechungen unterscheiden zu können. In den sozialen Medien kursieren unzählige Diättrends und vermeintliche „Wundermethoden“, die oft wissenschaftlich nicht belegt sind. „Das Problem ist, dass viele dieser Empfehlungen nicht nachhaltig sind und mehr Schaden als Nutzen anrichten“, sagt Dr. Fritz. Besonders kritisch seien Ernährungspläne, die auf extremen Einschränkungen basieren. „Es gibt Menschen, die zum Beispiel komplett auf Kohlenhydrate verzichten, weil sie irgendwo gelesen haben, dass diese schlecht für den Körper seien. Dabei sind Kohlenhydrate eine essenzielle Energiequelle“, so Fritz.

Auch Nahrungsergänzungsmittel werden oft als unverzichtbar dargestellt, obwohl eine ausgewogene Ernährung in den meisten Fällen völlig ausreicht. Der Sportmediziner warnt davor, unüberlegt Produkte aus dem Internet zu bestellen: „Man sollte nicht einfach irgendetwas einnehmen, ohne genau zu wissen, was darin ist. Diese Produkte sind nicht besonders gut kontrolliert, und es kann durchaus sein, dass auf der Verpackung Dinge versprochen werden, die nicht enthalten sind.“ Nahrungsergänzungsmittel seien nicht grundsätzlich schlecht, aber es sei essenziell, sich gut zu informieren und Rücksprache mit einer medizinischen Fachperson zu halten. „Der schlimmste Fall ist, dass es gesundheitsschädlich wird – der beste Fall ist, dass es einfach überhaupt nichts bringt.“
Balance statt Perfektion
Am Ende bleibt die zentrale Frage: Wie findet man die richtige Balance zwischen einem gesunden Lebensstil und einem entspannten Umgang mit Sport und Ernährung? Für Gesundheitsexpertin Bräuer ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Gesundheit mehr ist als ein durchtrainierter Körper oder ein strenger Ernährungsplan. „Gesundheit bedeutet nicht nur körperliches Wohlbefinden, sondern auch mentale Ausgeglichenheit“, betont sie. Wer sich selbst permanent unter Druck setzt, immer leistungsfähiger, fitter oder schlanker zu werden, tut sich langfristig keinen Gefallen.
„Das Leben ist nicht zu 100 Prozent planbar und das muss es auch nicht sein. Wenn die Basis der Ernährung stimmt, dann sind kleine ‚Fehler‘ völlig irrelevant“, meint Dr. Robert Fritz. Bewegung sollte Spaß machen und sich gut anfühlen, anstatt ein Zwang zu sein. Auch Genuss und soziale Erlebnisse gehören zu einem gesunden Lebensstil. Wer sich ohne schlechtes Gewissen ein Stück Kuchen gönnen oder ein Training ausfallen lassen kann, ist oft langfristig besser dran als jemand, der sich ständig selbst diszipliniert. Letztlich geht es darum, das eigene Wohlbefinden in den Mittelpunkt zu stellen und nicht einem unerreichbaren Ideal hinterherzujagen.
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Als Redakteurin der WIENERIN erkundet Laura Altenhofer gerne die neuesten Hotspots der Stadt. Besonders angetan hat es ihr jedoch die vielfältige Musikszene Wiens. Ob intime Clubkonzerte oder große Festivalbühnen – man findet sie meist dort, wo die Musik spielt.