„Generationen sind ein Mythos“
Das Bestehen von Generationsunterschieden wird im allgemeinen Diskurs, in den Medien und in der Arbeitswelt gemeinhin nicht infrage gestellt. Der Soziologieprofessor Martin Schröder widmet sich der Aufgabe, Selbstverständlichkeiten sozialer Verhältnisse wie jene zu hinterfragen und empirisch zu überprüfen. Mit interessanten Erkenntnissen.
© Studio Schloen
Wir Menschen neigen zu Schubladendenken. Zum einen ist das menschliche Gehirn so gestrickt, dass es komplexe Informationen vereinfacht, um sie besser verarbeiten zu können. Ideen, Dinge oder Menschen in vordefinierte Kategorien einzusortieren ist einfacher, als alle Ideen, Dinge oder Menschen individuell zu analysieren. Zum anderen hilft uns Schubladendenken, uns in sozialen Gruppen zugehörig zu fühlen und unsere Identität zu definieren. Diese Vereinfachungen und Einsortierungen ermöglichen uns, schnelle Entscheidungen zu treffen, können aber dazu führen, dass diese Urteile unkritisch und unreflektiert gebildet werden. Schubladendenken kann, indem es vermeintlich logische Erklärungen bietet – er oder sie ist so oder so, weil er zu dieser oder jener Gruppe gehört –, eine Reaktion aus Unsicherheit und Angst sein. Dies kann zu Vorurteilen und Diskriminierung führen.
Faul, ichbezogen, woke, klimafanatisch.
Solchen sieht sich derzeit die sogenannte Generation Z ausgesetzt, diejenigen jungen Menschen, die zwischen 1995 und 2010 (oder 2000 und 2015, darüber ist man sich nicht ganz einig) geboren wurden. Gefühlt im Wochentakt erscheinende Studien wollen belegen, dass ein großer Teil der Angehörigen dieser Generation fürs Arbeiten ungeeignet, faul, verwöhnt, ungeduldig und nur mit sich selbst beschäftigt sei. „Arbeitest du noch,
oder lebst du schon?“, mit dieser provokanten Frage eröffnete Markus Lanz kürzlich seine Talksendung im ZDF, „‚Gravierender Bruch‘ zwischen Babyboomern und Generation Z“ lautet ein Titel auf diepresse.com, „Scheitert unsere Zukunft an der Gen Z?“ titelte der „Focus“ im Juni, beantwortet die Frage allerdings damit, dass diese Sichtweise zu kurz gedacht sei.
Zu den Attributen „verwöhnt“, „ungeduldig“, „faul“ und „ichbezogen“ gesellen sich gemeinhin auch „woke“ und „klimafanatisch“. Es ist durchaus richtig, dass mehr junge als mittelalte oder ältere Menschen woke sind, doch auch wenn die Woken eine äußerst laute und einen großen Einfluss auf den Main-
stream habende Gruppe darstellen, so sind sie dennoch eine Randgruppe, und bei Weitem nicht alle Jungen ticken woke. Ebenso sind die wenigsten „Gen Z“-Angehörigen bereit, für ihre selbst gesteckten Klimaziele Gesetze zu brechen. Einige wenige können nicht stellvertretend für eine ganze Generation stehen. Zumeist keine Beachtung wird zudem der Tatsache geschenkt, dass die allermeisten der der jungen Generation zugeschriebenen Eigenschaften allesamt Eigenschaften sind, die alle Elterngenerationen der Generation ihrer Kinder nachgesagt haben. Menschen be- und verurteilen sich gegenseitig seit jeher.
Mythos Generationenunterschiede.
Die Soziologen des 20. Jahrhunderts, allen voran Karl Mannheim und dessen bahnbrechender Beitrag „Das Problem der Generationen“ von 1928, stellten die Generationentheorie als Erklärung für sozialen Wandel und soziale Phänomene auf; die Untersuchung von Generationsunterschieden diente dem Verständnis von Auswirkungen sozialer, politischer und kultureller Veränderungen auf verschiedene Altersgruppen. Das größte Manko jener ist allerdings, dass es unmöglich ist, den Einfluss der Generationenzugehörigkeit von jenem des Alters oder von Periodeneffekten zu trennen, was Missklassifikationen zur Folge haben kann. Heute forschende Soziologen wie Martin Schröder empfehlen deshalb, eine „lebensspannenorientierte Perspektive auf das Altern“ anzunehmen, die das Alter entlang eines Kontinuums betrachtet, anstatt in generationellen Kategorien.
Zur Person
Der gebürtige Deutsche Prof. Dr. Martin Schröder (42), Professor für Soziologie, genauer für Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung an der Fakultät für Empirische Human- und Wirtschaftswissenschaft der Universität des Saarlandes, ist ein viel gefragter Mann. Das liegt an seinem aktuellen, kürzlich beim C. Bertelsmann Verlag erschienenen Buch „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“, in welchem er die – auf Basis einer groß angelegten Studie – brisante These aufstellt, dass Frauen längst leben, wie es ihnen gefällt, und der Großteil sich nicht, wie der Feminismus proklamiert, benachteiligt fühlt, sondern ganz im Gegenteil anerkannt und zufrieden.
Schröder hat am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln promoviert und an der Harvard University studiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Gerechtigkeitsvorstellungen, Generationen- und empirische Genderforschung.
Interview
Herr Schröder, Ihr neuestes Buch „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ spricht mir aus der Seele, ihre soziologischen Befunde faszinieren mich, weil sie meinen Annahmen und meiner Weltsicht entsprechen. Das muss wohl daran liegen, dass Sie und ich fast gleich alt sind, wir derselben Generation angehören?
(Lacht) Ja, genau so funktioniert die Generationenliteratur. Viele fühlen sich allerdings auch von Horoskopen angesprochen, obwohl daran nichts Wahres ist. Ähnlich ist es mit Generationen.
Horoskope präsentieren immerhin zwölf Typen Menschen, bei den Generationen sprechen wir nur von ein paar wenigen. Aber nun ganz im Ernst …
Menschen verändern ihre Einstellungen mit dem Alter, und wir alle denken heute als Gesellschaft anders als früher. Doch wer sagt, dass es Generationen gibt, will Einstellungen von Menschen nicht mit diesen sogenannten Alterseffekten oder zeitperiodischen Effekten erklären, sondern meint, dass das Geburtsjahr eines Menschen erklärt, wie dieser denkt, und zwar unabhängig davon, wie alt man ist und wann man gefragt wird. Das ist aber nicht so. Der wissenschaftliche Stand ist selten so eindeutig: Menschen haben unterschiedliche Einstellungen aufgrund ihres Lebensalters – alte Menschen denken anders als junge.
Menschen aufgrund ihres Geburtsjahres zu diskriminieren ist auch nicht besser als aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe.
Prof. Dr. Martin Schröder
Sie schreiben in einer Ihrer Arbeiten mit dem Titel „Der Generationenmythos“ von der „Zwangsläufigkeit, mit der alle 15 Jahre eine neue Generation ausgerufen wird“. Was spricht dagegen?
Karl Mannheim erfand 1928 das Konzept „Generation“ mit der Überlegung, dass manchen Menschen in ihrer Jugend etwas derart Prägendes zugestoßen ist, dass sie ihr Leben lang davon gezeichnet sind, im Unterschied zu allen anderen, denen das nicht passiert ist. Denken Sie an die Generation, die während des Ersten Weltkriegs im wehrfähigen Alter war. Man kann davon ausgehen, dass diese aufgrund ihrer furchtbaren Erfahrungen im Krieg ein Leben lang anders gedacht hat als alle anderen Geburtenkohorten, die dieses traumatische Ereignis nicht erlebt haben. Doch heute ist das Ausrufen von Generationen ein Geschäft geworden, mit dem man Geld verdienen kann, indem man Unternehmen Coachings anbietet, die ihnen die neueste Generation erklären soll. Dazu muss allerdings möglichst oft eine neue Generation her, die vermeintlich anders tickt und die man also erklären kann. Nur: Es fehlt das prägende Ereignis, weswegen eine Generation angeblich ganz anders ist als die vorherige. Und so nimmt man halt, was geschichtlich gerade da ist. Beispielsweise wurde die „Gen Y“ angeblich durch 9/11 oder den Enron-Skandal geprägt. Alles nicht unwichtig. Doch dass es die Einstellungen einer ganzen Geburtenkohorte gegenüber allen anderen geprägt haben soll, darf man schon bezweifeln. Und es lässt sich eben auch nicht an den Daten ablesen, dass Menschen unterschiedlich denken, je nachdem, wann sie geboren wurden, erst recht nicht im 15-Jahres-Rhythmus.
Eigentlich handelt es sich bei monumentalen Ereignissen wie 9/11 also um Periodentrends, die die gesamte Gesellschaft beeinflussen und nicht nur einzelne Geburtenkohorten?
Genau. 9/11 beispielsweise war so nachhaltig prägend für eine Geburtenkohorte, dass man von einer Generation spricht. Es wird allerdings nicht empirisch geprüft, ob das vielleicht ein Einstellungswandel ist, der in der gesamten Gesellschaft stattgefunden hat.
Sie erzählten mir im Vorfeld, dass Sie mehrmals pro Woche Anfragen bekommen, weil „ein TikTok-Video, ein Managementguru, eine Entertainerin, eine Aktivistin, ein Twitter-User oder ein Journalist wieder etwas über Generationen erzählt hat“. Gründet all das, was medial aktuell so intensiv unter der Chiffre Generationenfrage diskutiert wird, also auf einem soziologischen Denkfehler?
Ja. Menschen haben eben unterschiedliche Einstellungen, je nachdem, wie alt sie sind und wann man sie fragt. Heute denken fast alle Menschen anders als etwa vor 20 oder 40 Jahren. Doch wenn man diese beiden Effekte in Rechnung stellt – in der Wissenschaft „Alters-“ und „Periodeneffekte“ genannt –, bleiben keine „Generationeneffekte“ übrig. Man kann Einstellungen von Menschen also mit ihrem Alter und dem Befragungszeitpunkt erklären, aber nicht mit ihrem Geburtsjahr. Insofern gibt es auch keine Generationen.
Ein Großteil der Fachwelt fragt sich gar nicht mehr, ob es Generationen gibt, sondern wie Menschen an Generationen glauben können, obwohl jeder, der sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt, herausfindet, dass es keine Generationen gibt.
Das Ausrufen von Generationen ist ein Geschäftsmodell, mit dem man Geld verdienen kann.
Prof. Dr. Martin Schröder
Warum, glauben Sie, ist man so versessen auf das Ausrufen und die Rede von den Generationen?
Weil es Spaß macht, an Generationen zu glauben, weil wir uns alle gerne einer Gruppe zugehörig fühlen wollen und diejenigen, mit denen wir geboren wurden, bieten sich da an. Wir denken alle unheimlich gerne in Kategorien. Doch viele dieser Kategorien sind zunehmend verpönt. Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe einzuteilen ist heute glücklicherweise nicht mehr gerne gesehen. Also suchen wir uns eine neue Kategorie, die uns weniger problematisch erscheint: Generationen. Menschen aufgrund ihres Geburtsjahres zu diskriminieren ist aber auch nicht besser als aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe. Es gibt lediglich noch kein gesellschaftliches Problembewusstsein dafür, dass an der Kategorie Generation genau so wenig dran ist wie an anderen Diskriminierungskategorien.
Faul, aber gleichzeitig anspruchsvoll, übermäßig bedacht auf eine gute Work-Life-Balance etc. – ob all das, wie es so oft heißt, auf die Gen Z zutrifft, welche spezifischen Eigenschaften die heutige jüngere Generation im Vergleich zu früheren Generationen charakterisieren, sind also müßige Fragen.
Ja. Kollegen von der George Washington University fanden bereits 2012 in einer Studie über generationale Unterschiede bei der Arbeitseinstellung mit 20.000 Teilnehmern aus vier Generationen – Traditionalisten, Babyboomer, Generation X und Millenials bzw. Generation Y – heraus, dass die Beziehungen zwischen Generationszugehörigkeit und arbeitsbezogenen Einstellungen moderat bis gering sind und in vielen Fällen sogar praktisch gegen null gehen. Es waren keine systematischen Unterschiede erkennbar. Wir müssen uns vom Generationenkonzept verabschieden.
Definieren sich Menschen nicht viel eher als über eine Generation über ihren Beruf, ihre Ausbildung, ihre kulturelle Herkunft, ihr Geschlecht, darüber, wo sie wohnen (Stadt oder Land), ob sie Single, Eltern, kinderlos oder alleinerziehend sind? Vielleicht liegt gerade hier des Pudels Kern.
Auf jeden Fall! Das Fazit der Autoren lautete: Wir brauchen ein besseres Verständnis davon, was die Generationszugehörigkeit im Vergleich zu verwandten Variablen, wie Alter, Reife, Berufserfahrung und individuellen Merkmalen, bei der Vorhersage von solchen Ergebnissen für eine Rolle spielt.
Was für Schlüsse können Arbeitgeber aus der Erkenntnis ziehen, dass Generationenunterschiede ein Mythos sind, wenn auch ein sich besonders hartnäckig haltender?
Es ist schon richtig, dass junge Leute heute weniger Lust haben, lange zu arbeiten. Aber das liegt zum einen daran, dass jungen Menschen Arbeit schon immer weniger wichtig war als Menschen um die 40, und andererseits daran, dass wir heute alle, unabhängig von unserem Geburtsjahr, weniger Lust auf Überstunden haben. Das ist ein Phänomen, das die gesamte Gesellschaft zu betreffen scheint und somit keine Generationenfrage ist. Was sich als Generationenunterschied tarnt, ist also in Wirklichkeit ein Unterschied, der sich durch das Alter erklärt und durch Einstellungsveränderungen, die in Wirklichkeit alle Menschen in der Gesellschaft gleichermaßen betreffen.
Der zweite Faktor ist, dass jüngere Menschen schon immer anderes im Kopf hatten als Arbeit. Zieht man beide Faktoren ab, bleibt kein Generationeneffekt übrig. Fragen Sie sich als Arbeitgeber also, ob junge Menschen nicht schon immer anders getickt haben als alte, und fragen sie sich, ob heute nicht alle anders ticken als früher – aber ob Menschen eines bestimmten Geburtsjahrgangs anders sind, diese Fragen können sie sich ruhig sparen. Es könnte sich für Unternehmen als wenig effektiv erweisen, Mitglieder unterschiedlicher Generationen unterschiedlich zu behandeln. Ich rate davon ab, sich auf unbegründete Verallgemeinerungen über ganze Gruppen von Mitarbeitern basierend auf der generationalen Zugehörigkeit zu verlassen.