Junge Frau geht gutgelaunt im Schnee spazieren

Barbara Kitzmüller: Vom Müssen ins Dürfen

Wie Familie, Rituale und Achtsamkeit helfen, wirklich abzuschalten - nicht nur in der Weihnachtszeit.

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Die Welt scheint im Dauerkrisenmodus und viele Menschen gleich mit. Zwischen Nachrichten, Verpflichtungen und innerem Druck sucht man verzweifelt nach Ruhe. Doch was braucht es, um sie wirklich zu finden? Barbara Kitzmüller ist psychosoziale Beraterin und spricht in unserem Interview über Selbstwirksamkeit, den Vagusnerv und kleine Rituale, die Großes bewirken können.

Die Weltlage ist angespannt. Viele spüren das psychisch und körperlich. Was passiert in uns, wenn die ständige Krisenstimmung auf uns einwirkt?
Das hängt stark davon ab, welche Erfahrungen wir bisher mit Krisen gemacht haben. Die Corona-Zeit hat uns gezeigt, dass wir vieles schaffen und bewältigen können. Gleichzeitig können die dauernden negativen Schlagzeilen dazu führen, dass wir innerlich nicht mehr zur Ruhe kommen. Dann reagiert unser Nervensystem mit Überlastung – wir sind ständig hochaktiviert. Wichtig ist, sich bewusst zu fragen: Wie viel lasse ich zu? Was triggert mich? Selbstwirksamkeit hilft dann enorm: sich also zu fragen, was kann ich selbst tun? Wo kann ich Frieden im Kleinen schaffen? Manchmal beginnt das damit, Familienthemen anzusprechen – leichter geht das natürlich mit professioneller Beratung.

Barbara Kitzmüller
Barbara Kitzmüller ist psychosoziale Beraterin. © Andrea Wieshofer

Immer öfter hört man vom Vagusnerv, wenn es ums Entspannen geht. Was steckt dahinter?
Der Vagusnerv ist der zehnte Hirnnerv. Er zieht vom Gehirn über Hals und Brustkorb bis in den Bauchraum und verbindet dort viele Organe miteinander. Er ist Teil des Parasympathikus – also des Systems, das für Erholung und Ruhe zuständig ist. Man kann auch mit Übungen den Vagusnerv „trainieren“ und so Stress abbauen. Es gibt Studien dazu, aber die Wissenschaft spricht vom Zusammenspiel mehrerer Faktoren.

Warum fällt es uns oft so schwer, wirklich zur Ruhe zu kommen?
Unsere Welt ist laut, schnell und informationsüberflutet. Viele leben in einer ständigen inneren Alarmbereitschaft. Das Nervensystem steht unter Spannung, als würde gleich ein Säbelzahntiger um die Ecke kommen. In diesem gefühlten Gefahrenzustand können wir nicht mehr sehen, wie schön zum Beispiel die Blumen blühen. Wer ständig im Stressmodus ist, tut sich schwer damit, herunterzukommen.

Viele Dinge sind an sich eine Ressource, aber sobald es zu viel wird, kippt es und wird zum Stress.

Mag. Barbara Kitzmüller

Welche einfachen Möglichkeiten gibt es, im Alltag zu entspannen – auch im Büro oder zwischen Familienfeiern?
Wichtig ist, dass Entspannung individuell ist. Für die einen ist es Musik, für die anderen ein Spaziergang im Wald oder der Duft des ersten Kaffees am Morgen. Alles, was uns ins Hier und Jetzt holt, wirkt beruhigend. Langsam und bewusst sind hier die Zauberworte. Hilfreich ist auch, den Körper bewusst wahrzunehmen: Wie fühlen sich meine Schultern an, wenn ich loslasse? Wie reagiert mein Atem? Was tut sich sonst noch im Körper? Welche Körperteile entspannen sich jetzt? Im Winter kann es schon helfen, sich in eine Decke zu kuscheln, sie fest um sich zu wickeln und zu spüren, welche Körperteile entspannen. Dieses bewusste In-sich-Hineinspüren ist oft der Schlüssel und das braucht Zeit.

Und wie kann man als Familie gemeinsam zur Ruhe kommen?
Rituale sind wunderbar. Eine Freundin von mir dekoriert jedes Jahr mit ihrer Tochter das Haus – für beide ist das entspannend. Für mich wäre es eher Stress (lacht). Es kann auch gemeinsames Singen sein, denn beim Singen atmen wir automatisch tiefer, und das wirkt beruhigend. Auch summen reicht! Schön ist ein gemeinsamer Jahresrückblick und dankbar zu würdigen, was gut war.

Das schönste Geschenk, das wir uns selbst machen können? Die Fülle reduzieren und vom Müssen ins Dürfen kommen.

Mag. Barbara Kitzmüller

Viele möchten zum Jahresende noch alles erledigen. Ist das hilfreich oder macht es alles noch stressiger?
Für manche ist Aktivität anregend und gut, andere geraten dadurch erst recht unter Druck. Wichtig ist, zu spüren, wann es zu viel wird. Wir müssen nicht alles in den Dezember stopfen. Nur wer bei sich bleibt, merkt, wo der grüne Bereich endet.

Was wäre für Sie das schönste Geschenk, das wir uns selbst machen können?
Die Fülle zu reduzieren und vom Müssen ins Dürfen zu kommen. Viele Dinge sind an sich eine Ressource, aber sobald es zu viel wird, kippt es und wird zum Stress. Man darf sich fragen: Wo kann ich es mir leichter machen? Und was brauche ich wirklich? Ein Geschenk an sich selbst ist auch, Verantwortung zu teilen. Niemand muss das Weihnachtsessen allein stemmen. Wenn jeder etwas beiträgt, wird es für alle entspannter.

Wenn Sie einen Satz als Motto für den Jahreswechsel formulieren könnten – welcher wäre das?
Love it, leave it, change it. Was du nicht liebst, darfst du verabschieden oder verändern. Und was bleibt – das darfst du langsam und bewusst genießen.

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