
„Ich wollte sie nur mit nach Hause nehmen“
Eine berührende Geschichte über Sternenkinder, Trauer, Hoffnung und den Weg zurück ins Leben – begleitet durch die Beratungsstelle ZOE.
© pexels
Wenn Arzu K. von ihrer Schwangerschaft erzählt, hat sie ein Lächeln auf den Lippen – während gleichzeitig Tränen über ihre Wangen laufen. „Ich hatte eine wunderschöne Schwangerschaft, ohne Beschwerden, ohne Probleme“, sagt sie leise. „Obwohl es nicht geplant war, habe ich gespürt: Dieses Kind ist genau das, was mir im Leben gefehlt hat.“
Im sechsten Monat erfahren Arzu und ihr Mann das Geschlecht ihres Babys – es wird ein Mädchen. „Als ich das gehört habe, hat mir die Welt gehört“, erinnert sich die 31-Jährige. Voller Vorfreude richten sie das Kinderzimmer ein und träumen von ihrem Leben zu dritt.
Vom Urlaub ins Krankenhaus
Doch dann, mitten im Urlaub, spürt Arzu: Etwas stimmt nicht. Ihre Tochter bewegt sich kaum noch. Das Paar reist sofort zurück und fährt direkt ins Krankenhaus. Die Diagnose: vorzeitiger Blasensprung – in der 26. Schwangerschaftswoche. Es folgen Untersuchungen, Tests, bange Stunden, bis plötzlich alles ganz schnell geht. Das Herz ihrer Tochter schlägt immer schwächer. Die Ärzte müssen sie mit einem Notkaiserschnitt auf die Welt holen.
Wo ist mein Kind?
Als Arzu aus der Narkose erwacht, ist sie völlig unter Schock. „Wo ist mein Kind?“, fragt sie. Was folgt, ist ein Albtraum, den keine Mutter je erleben sollte. Ihr kleines Mädchen liegt auf der Intensivstation, angeschlossen an Schläuche und Maschinen. Die Ärzte sagen, es sehe nicht gut aus. Wahrscheinlich sei sein Gehirn durch den Sauerstoffmangel schwer geschädigt. Arzu erinnert sich an diesen Moment: „Es war mir egal, ob sie eine schwere Behinderung hat – ich wollte sie nur mit nach Hause nehmen.“
Doch dieser Wunsch bleibt unerfüllt. Am dritten Tag nach der Geburt wissen die Ärzte: Das kleine Mädchen wird es nicht schaffen. Sie fragen, ob die Eltern es noch taufen lassen möchten. Da begreift Arzu, was wirklich geschieht. „Am nächsten Tag ist sie in unseren Armen gestorben. Und an unserem Hochzeitstag haben wir sie beerdigt.“ Ihre Stimme bricht. Tränen laufen über ihr Gesicht. Man spürt, wie sehr sie ihr Kind vermisst.

Ich habe nur noch auf der Couch gelegen und die ganze Welt gehasst.
Sternenmama Arzu K.
Wochenlang kann die 31-Jährige das Haus nicht verlassen. Der Schmerz ist zu groß, überwältigt sie immer wieder. „Ich habe nur noch auf der Couch gelegen und die ganze Welt gehasst“, sagt sie. „Ich wusste, dass das Leben der anderen weitergeht – aber meins stand still. Ich habe nur noch existiert und wusste nicht, wie ich aus diesem Loch je wieder herauskommen sollte.“ Trotz der Hoffnungslosigkeit folgt Arzu irgendwann ihrem Bauchgefühl: Gemeinsam mit ihrem Mann sucht sie die psychosoziale Beratungsstelle ZOE in Linz auf – empfohlen vom Krankenhaus. Dort werden nicht nur Sterneneltern, wie man Eltern nennt, die ein Kind verloren haben, begleitet. Auch bei Fragen rund um Schwangerschaft, Geburt und Familienleben findet man hier Unterstützung.
Austausch mit anderen Sterneneltern
Hannah Baier, psychosoziale Beraterin bei ZOE, erinnert sich gut an das erste Gespräch mit dem Paar. „Es war deutlich, wie sehr sie im Ausnahmezustand waren“, erzählt sie. „Ich habe ihnen unsere Trauergruppe ans Herz gelegt, aber anfangs konnten sie sich das gar nicht vorstellen.“ Doch Arzu will wissen, wie andere Eltern mit einem solchen Verlust leben. Wie man aus diesem unfassbaren Schmerz wieder herausfinden kann.
Also geht sie zur Trauergruppe – und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Tochter spürt sie ein Gefühl von Geborgenheit. „Ich bin am Boden gesessen und habe so sehr geschluchzt, dass ich kaum noch Luft bekommen habe“, erinnert sie sich. „Ich habe gefragt, was mit mir falsch ist. Da hat ein völlig fremder Mann gesagt: ‚Mit dir ist alles richtig.‘ Ich hätte ihn am liebsten umarmt – so gut haben mir seine Worte getan.“

Der Verlust eines Kindes ist noch immer ein Tabuthema.
Hannah Baier, psychosoziale Beraterin bei ZOE
In diesen Gruppen finden Sterneneltern einen Raum, den ihnen die Gesellschaft oft nicht gibt. „Der Verlust eines Kindes ist noch immer ein Tabuthema“, erklärt Hannah Baier. „Viele Menschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen – aus Unsicherheit melden sie sich gar nicht mehr oder sagen Dinge, die sehr verletzen können. Dabei brauchen Sterneneltern vor allem eines: dass ihr Schmerz anerkannt wird.“ Sie brauchen Menschen, die da sind. Die anrufen, ein Care-Paket vorbeibringen, einfach zuhören. Und: die ihr Kind nicht verschweigen. „Sterneneltern möchten, dass ihre Trauer gesehen wird“, sagt Baier.
Erster Schritt zurück ins Leben
Für Arzu ist die Trauergruppe ein erster Schritt zurück ins Leben. Sie findet neue Freunde, beginnt zu malen, verbringt viel Zeit in der Natur. Menschen, die in ihrer schwersten Zeit nicht für sie da waren, lässt sie los. Auf ihrem Arm trägt sie heute die Initialen ihrer Tochter und Symbole, die sie mit ihr verbindet – tätowiert für immer. Und sie startet einen Podcast. Mit „Feuerregen“ gibt sie jenen Eltern eine Stimme, die den Verlust ihrer Kinder verkraften müssen.
Ob sie selbst noch einmal Kinder bekommen möchte, weiß sie nicht. Vielleicht. Vielleicht auch auf einem anderen Weg – als Pflege- oder Adoptivmama. „Ich habe mich so sehr verändert“, sagt die 31-Jährige. „Ich brauche noch Zeit, um zu mir selbst zu finden.“ Hannah Baier nickt. Sie weiß, was Arzu meint. Und genau dieses Verständnis – dieses stille Wissen, dass irgendwann wieder Licht in ihr Leben kommen wird – ist es, das Arzu heute trägt. Ebenso wie die Gewissheit: Ihre Tochter wird für immer Teil ihres Lebens sein.
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