Die Lust des Cancelns

Konrad Paul Liessmann im Gespräch

16 Min.

Das Rennrad für den Körper, die Philosophie für den Geist. Am 13. April begeht Konrad Paul Liessmann seinen 70. Geburtstag, doch vom Alter keine Spur. 70 sei das neue 60. Mindestens, ja. Dank seiner Begeisterung für das Rennrad körperlich fit und der Liebe zur Weisheit brennend im Geist, bewahrt sein scharfer Blick auf den Zeitgeist und dessen mitunter merkwürdige Auswüchse seine Zuhörer und Leser vor der Falle des einseitigen Denkens. Der emeritierte Universitätsprofessor für Philosophie und Ethik an der Universität Wien, Philosoph und Publizist, der für sein Schaffen zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten hat, nimmt die Aufgabe der Philosophie, zum Verstehen der Wirklichkeit in ihren vielfältigen Dimensionen beizutragen, das große Ganze stets im Blick habend, ernst. Vital, charmant und gewohnt scharfzüngig zeigt sich der brillante Denker Konrad Paul Liessmann im Gespräch im altehrwürdigen Hotel Bristol in Wien. 

© Emmerich Mädl

Konrad Paul Liessmann, „Wissenschaftler des Jah­res“ 2006, ist Träger des Paul-Watzlawick-Ehren­rings und wurde u.a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik sowie mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln geehrt. Der Professor für „Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik“ befindet sich seit 2021 im Ruhestand und widmet sich seither verstärkt dem Schreiben von Essays und Büchern. Im März sind drei Bücher von und mit ihm erschienen: „Lauter Lügen“, „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ (beide
Zsolnay Verlag) und „Canceln. Ein notwendiger Streit“ (Hanser Verlag). 

Herr Professor, demnächst werden Sie 70. Sie haben einmal gesagt, das Alter habe Sie nachsichtiger gemacht. Ist diese Altersgelassenheit – neben der Altersweisheit, die sich in Ihrem Fall erübrigt hat – das Glück des Älterwerdens? 

Ich weiß nicht, ob man das als Glück bezeichnen kann, oder ob die Altersnachsichtigkeit nicht das Unglück des Älterwerdens ist. Man gewinnt diese Nachsichtigkeit aus einer gewissen Lebenserfahrung. Man hat viel gesehen und erlebt, man erkennt, wie sich vieles wiederholt. Als älterer Mensch weiß man, dass es Bewegungen wie die Wokeness und die Cancel Culture, ideologische Auseinandersetzungen dieser oder jener Art immer schon gegeben hat. Man hat also nicht dieses „Problem“ der Jugend, sich für einzigartig und erstmalig zu halten – oder für letztmalig, wie die „Letzte Generation“. Gleichzeitig weiß man aber, man kann nicht mehr so enthusiastisch und zutiefst überzeugt für etwas eintreten, weil das Leben einen gelehrt hat, wie schnell sich die Dinge ändern und wie relativ manches ist. Die Lebenserfahrung sagt einem: Du hast dich oft auch geirrt in deinem Leben, tu nicht so, als hättest du jetzt endlich absolut recht. Nein, offensichtlich ist die Altersweisheit eher ein Unglück und kein Glück.

Das Stichwort ist gefallen. Für die einen ist die Cancel Culture eine gefährliche Ideologie, für die anderen ein neurechter Kampfbegriff, mit dem die Stimmen von Feministen, schwarzen Menschen, Migranten und queeren Menschen delegitimiert werden sollen, für wieder andere ist sie ein nicht ernst zu nehmender Studentenulk. Wo ordnen Sie das Phänomen ein? 

Das ist ganz schwer zu sagen. Ich glaube, man muss versuchen, Cancel Culture und Wokeness unter Gesichtspunkten gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen. Sie sind Ausdruck eines neuen identitätspolitischen Denkens und reihen sich ein in Emanzipationsbewegungen, die wir seit dem 19. Jahrhundert kennen. Bis zu einem gewissen Grad haben sie auch ihre Berechtigung. Denn es wäre sinnlos zu leugnen, dass es in unserem kulturellen Gefüge nicht Machtgefälle gäbe. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder anderen Gründen weniger Chancen haben als andere, die keine Möglichkeit haben, ihre Positionen zu formulieren. Die Cancel Culture meint aber nicht, diesen Menschen die Möglichkeit dazu zu geben – da wäre ich sofort dafür –, sondern anderen die Möglichkeit zu nehmen, weil sie angeblich gegen bestimmte moralische Kodizes und ideologische Positionen verstoßen haben. Da beginnt es für mich problematisch zu werden. Besonders prekär wird es dann, wenn sich die Cancel Culture auf kulturelle Erzeugnisse bezieht, die mit lebenden Menschen gar nichts mehr zu tun haben, wenn zum Beispiel gefordert wird, Shakespeare zu canceln oder Texte der Vergangenheit um oder neu zu schreiben, weil sie den gegenwärtigen moralischen Ansprüchen nicht genügen. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie wir grundsätzlich mit Traditionen und der Historie umgehen sollen.

Die Vergangenheit war offensichtlich moralisch verwerflich, böse. 

Es behauptet niemand, zumindest ich nicht, dass die Vergangenheit besser gewesen sei als die Gegenwart, aber die Gegenwart ist auch nicht in allen Belangen besser als die Vergangenheit. Es ist schon eine sehr juvenile und kurzsichtige Position zu glauben, dass alles, was wir heute machen, sowohl politisch als auch kulturell dem überlegen sei, was die vergangenen Generationen gemacht haben. Das wäre nur erklärbar aus einem Prinzip des Fortschritts, der ganz seltsam verläuft, nämlich so: Bis zum Jahr 2000 gab es nur Kolonialismus, moralische defizitäre Bewegungen, Unterdrückung, und seit die woke Generation das Licht der Welt erblickt hat, kippt diese fatale Weltgeschichte urplötzlich in eine einzigartige Fortschrittsgeschichte um. So funktioniert Geschichte nun einmal nicht. Klüger ist es, in der Vergangenheit die Traditionen und Wurzeln aufzusuchen, die Fortschritte ermöglichen, sich damit auseinanderzusetzen und natürlich auch das zu kritisieren, was aus unserer heutigen Perspektive falsch erscheint. Die Geschichte ist so gelaufen, wie sie gelaufen ist. Sie ist kein Gegenstand einer moralischen Beurteilung oder Verurteilung. Wenn es zutrifft, dass diese Tendenz besteht, die Vergangenheit zu entsorgen, weil man sie für unzumutbar hält, dann würde ich in der Tat sagen, das ist eine höchst bedenkliche Entwicklung, weil sie natürlich in eine vollständige Geschichtsvergessenheit führen muss.

Das Geschäft von Kunst und Wissenschaft war es immer, Menschen zu verletzen.

Welcher Boden war es, der diese „Kultur“ überhaupt hat sprießen und gedeihen lassen? 

Die Cancel Culture ist kein neues Phänomen. Es hat sich zwar der Begriff geändert, und auch manche Ausdrucksweise wie auch die Objekte, die gecancelt werden, haben sich verschoben, aber solche Debatten hat es immer schon gegeben. Weil jede Gegenwart sich der Vergangenheit gegenüber im Recht fühlt. Schon in meiner Studentenzeit gab es heftige Diskussionen darüber, was man lesen soll und was nicht, was in den Literaturkanon gehört und was nicht, was rausgekickt oder, heute würde man sagen: was gecancelt gehört.

Die Beanstandungen waren aber ästhetischer und inhaltlicher Natur. 

Nicht nur. Auch damals schon ging es um die ideologische Ausrichtung der Autoren. In den 60er- und frühen 70er-Jahren war es etwas ganz Übles, Thomas Mann zu lesen – wenn, dann nur seinen Bruder Heinrich. „Der Untertan“: Ja! „Der Zauberberg“: Nein! Wir linken jungen Studenten wollten Thomas Mann nicht lesen, weil er der Inbegriff des „Bürgers“ war, Repräsentant einer Erzählkultur, die uns sehr konservativ und rückschrittlich erschien. Gerettet hat ihn nur, dass er dann spät, aber doch Antifaschist geworden ist. Das Lustige ist, heute ist es wieder etwas Übles, Thomas Mann zu lesen, aber aus anderen Gründen. Er wird zwar nicht gerade gecancelt, aber scheel angesehen, weil er kulturelle Aneignung und Schlimmeres betrieben hat. Er hat sich der jüdischen Geschichte bedient, pädophile Neigungen ästhetisch verklärt und auch schamlos plagiiert, lauter Dinge, die man heute unter Verdacht stellt. Das Plagiat war für uns damals übrigens noch gar kein Problem, denn Eigentum war ein bürgerlicher Begriff. Die Enteignung der Eigentümer, und das galt für geistiges Eigentum genauso, war ein revolutionärer Akt und nicht das Problem. Tatsache ist, Thomas Mann gibt es noch immer, und auch die gegenwärtige Cancel Culture wird er überleben. 

Man könnte auch sagen, wenn es jemandem aufgrund einer gewissen Empfindsam- und Empfindlichkeit nicht passt, wie ein literarisches Werk geschrieben wurde, dann muss er oder sie es ja nicht lesen.  

Ich wurde als Jugendlicher mit Klassikern der Literatur versorgt, die mit der Anmerkung „für die Jugend bearbeitet von“ versehen waren. Ich wollte „Die Schatzinsel“ aber so lesen, wie sie wirklich geschrieben wurde. Als ich das Buch dann zum ersten Mal in unbearbeiteter Form las, merkte ich erst, was für ein großartiger Roman das ist. Ich denke, das handhaben interessierte junge Menschen nicht anders. Im Gegenteil, diese Triggerwarnungen sind ja eigentlich eine Werbemaßnahme. Wenn ich die Warnung lese: „Achtung, es können furchtbare Szenen vorkommen“, dann lese ich das Buch doch sofort. Als problematischer erachte ich die „sensitivity readers“, die viele Verlage anstellen und die Manuskripte im Hinblick darauf lesen, ob sie ja allen moralischen Standards genügen und sich ja niemand durch etwas verletzt fühlen könnte. Da kann ich nur sagen, das Geschäft von Kunst und Wissenschaft war es immer, Menschen zu verletzen. Man stelle sich vor, Galileo Galilei wäre so vorsichtig gewesen und hätte gesagt, ich habe eine tolle Theorie, kann sie sogar beweisen, aber alle gläubigen Menschen werden sich verletzt fühlen, deshalb sage ich lieber nichts. Oder wie viele Menschen hat Darwin mit seiner Evolutionstheorie verletzt, bis heute! Wenn man auf das alles Rücksicht nehmen muss, gibt es weder einen ästhetischen noch einen Erkenntnisfortschritt. Wir müssen wegkommen davon, die einzelnen, teils recht amüsanten Fälle von Cancel Culture zu diskutieren, sondern sollten die dahinter liegende Haltung überdenken, nämlich: Schreibe nichts, mache nichts, sage nichts, was nicht einen anderen verletzen könnte. Wir sollten überdenken, was es bedeutet, das Prinzip der Verletzbarkeit zum alleinigen Maßstab zu machen, und uns fragen, ob nicht bestimmte Formen von Verletzbarkeit und Verletzlichkeit zumutbar sind oder zumutbar sein müssen. Mir wäre es recht, wenn es an Universitäten nicht nur Safe Spaces, sondern auch Risikoräume gäbe, wo Studenten bewusst hingehen, weil sie dort mit Literatur, Texten, Theorien konfrontiert werden, von denen sie wissen, diese könnten sie zutiefst verstören, sie aber neugierig genug sind, dieses Risiko in Kauf zu nehmen. 

In der Cancel Culture, in diesem Bemühen um Reinheit und Sauberkeit und eindeutige Identitäten, geht die Fülle des menschlichen Lebens verloren. 

Empfindlichkeit und Verletzbarkeit haben ja eine subjektive Dimension.

Das Schöne ist, über meine Gefühle kann nur ich Auskunft geben. In meiner Empfindsamkeit drückt sich meine Subjektivität aus. Ich darf daran erinnern, dass die große Individua­lisierungsphase in der deutschsprachigen Literatur mit einer Epoche begann, die unter der Bezeichnung „Empfindsamkeit“ firmiert. Das heißt, plötzlich darzustellen, wie sensibel ich auf die Welt reagiere, was mich alles verletzt, war Ausdruck einer neuen aufkeimenden Individualität, einer Subjektivität, die ganz wesentlich war für die Entwicklung der liberalen Gesellschaft. Der Mensch hat sich nicht mehr nur als konformes Wesen in einem Kollektiv gesehen. Das Interessante ist, dass diese neue Empfindsamkeit der Woken gerade diese Subjektivität wieder kollektiviert. Ich fühle mich verletzt, weil ich als Angehöriger einer bestimmten Gruppe verletzt worden bin, als Frau, als queere Person oder als PoC, und nicht in meiner tatsächlichen Individualität. 

Was man am Identitätsdiskurs vermisst, ist der Blick auf den Menschen, auf sein Wesen, unabhängig von Geschlechts-, ethnischen, kulturellen, sexuellen oder religiösen Identitäten. Sie werfen in Ihrem Buch die Frage auf, ob wir denn vom Menschen mit seinen Abgründen, seiner dunklen Seite vielleicht gar nichts mehr wissen wollen und das der eigentliche Anlass zur Besorgnis wäre. 

Man möchte diese dunkle Seite, die Abgründe des Menschseins am liebsten ausblenden – oder auf einen anderen projizieren, denn dann geht es ja wieder. Wenn ich den ganz Bösen erkannt habe, vereint dieser alles Böse in sich, und alle anderen sind freigesprochen. So einfach ist es eben nicht oder nur manchmal. Wenn ich versuche, sowohl den politischen Diskurs als auch die Literatur oder die Kunst von diesen Schattenseiten zu befreien, dann verliere ich das Interesse am Menschen. 

Sie beziehen sich hier auf ein Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, eines Ihrer Lieblingsphilosophen. 

Ja. Kierkegaard stellte schon in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts fest, dass alle so brav und bieder sein wollen und das zutiefst langweilig ist und er deshalb lieber in der Bibel oder Shakespeare liest, denn dort gibt es noch echte Menschen. Dort wird geliebt und gehasst, verfolgt und gemordet und verraten und Ehebruch begangen, und es wird auch gebüßt und bestraft. Genau diese Fülle des menschlichen Lebens geht uns in der Cancel Culture, in diesem Bemühen um Reinheit und Sauberkeit und eindeutige Identitäten verloren. 

Natürlich stimmt es: Wir sind immer Angehörige bestimmter Gruppierungen. Wir sind Frauen, Männer oder etwas Drittes, wir sind einer bestimmten Sprach- und Kulturgemeinschaft angehörig, sind Angehörige einer Religionsgemeinschaft oder Atheisten, wir sind aber mit keiner dieser Teilidentitäten vollständig eins. Ich lasse mich nicht darauf reduzieren, dass ich ein 70-jähriger Mann bin. Ich bin das schon, aber ich bin nicht nur das. 

„Wer bei allem und jedem immer ein ‚Ich
als …‘ vorausschicken muss, hat sein Ich schon aufgegeben.“ Das schreiben Sie in Ihrem neuen Buch „Lauter Lügen“.

Ich denke, das Entscheidende ist, dieses „nicht nur“ zu betonen, welches in einem kollektivistisch gedachten Gleichheitsprinzip untergeht. Denn wenn wir auf gewisse Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Hautfarbe reduziert werden und nur als Element einer bestimmten Gruppe wahrgenommen werden, hören wir als Individuen auf zu existieren. 

Interessant ist, dass Cancel Culture, Wokeness und Identitätspolitik gerade in den westlichen Demokratien, wo Frauen- oder Minderheitenrechte am besten geschützt sind, entstanden und gedeihen. Harald Schmidt hat einmal über kulturelle Aneignung gesagt: „Das sind doch alles völlige First-
World-Problems. Wenn aus deinem Wasserhahn kein sauberes Wasser kommt, sind dir Winnetou, Lederhosen oder Dreadlocks völlig wurscht.“ Sind die beschriebenen Erscheinungen ein Wohlstands- und Elitenproblem von privilegierten jungen Menschen? 

Das ist, glaube ich, tatsächlich der Fall. Je mehr die Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit erfüllt sind, desto auffälliger ist die Konzen­tration auf marginale Unterschiede. Solange Frauen nicht studieren konnten, weil es ihnen tatsächlich verboten war, musste man sich darüber aufregen. Die Zulassung der ersten Frauen zum Studium war eine entscheidende Errungenschaft und wurde zu Recht als Befreiung wahrgenommen. Heute kann jede Frau studieren, aber statistisch gesehen gibt es noch immer bestimmte Fächer, wo wenige Frauen vertreten sind, Technische Physik zum Beispiel. Sofort erheben sich Stimmen, die meinen, das dürfe nicht sein, es verletze das Gleichheitsprinzip, mindere die Chancen von Frauen in gut bezahlten Berufen, obwohl es eine Marginalie ist, gemessen daran, was tatsächlich einmal Diskriminierung bedeutet hat – abgesehen davon, dass man offenbar jungen Frauen nicht zutraut, selbst über ihre Studienwahl zu entscheiden. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die „feinen Unterschiede“, weil die großen Ungerechtigkeiten zumindest dem Gesetz nach beseitigt sind. 

Die wichtigste Frage lautet: Wie können wir offene Diskussionen über kontroverse Themen – Migrationskrise, Coronapandemie, Klimakrise etc. – fördern, ohne dass es zu Cancelungen kommt? Es scheint, als ginge das gar nicht mehr. 

Zunächst müssen immer alle Beteiligten den guten Willen dazu haben. Es muss bei allen die Bereitschaft da sein, sich darauf zu verständigen, dass es wert ist, etwas kontrovers zu diskutieren. Die Voraussetzung dafür ist immer die stille Vorannahme, ich könnte auch unrecht haben, ist die Bereitschaft, sich einzugestehen, sich zumindest bei einigen Punkten auch irren zu können. Diese Selbstgefälligkeit, dass man eh weiß, was das Richtige und was das Gute ist, sodass der andere nur noch moralisch denunziert oder therapeutisch behadelt werden kann, sollte man zurücknehmen. Das ist aber natürlich wahnsinnig schwierig. 

Ein Interesse am Standpunkt des anderen und Neugierde sind gute Voraussetzungen für offene Diskussionen ohne Ächtung und Boykott.

Ja, denn das, was uns offen macht für Diskussionen und Kontroversen, ist die Neugier. Wenn ich nicht neugierig darauf bin, wie der andere denkt, brauche ich auch nicht mit ihm zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass hinter der woken Bewegung und der Cancel Culture, mit ihren Motiven, die ich durchaus verstehen und nachvollziehen kann, eines zutiefst bedenklich ist, nämlich diese mangelnde Neugier. 

Wokeness:

meint eine hohe, gelegentlich engstirnige oder mit militantem Aktivismus verbundene Sensibilität für insbesondere rassistische und sexistische Diskriminierung und soziale Ungleichheit.

Cancel Culture:

ist der Versuch, eine Person oder Organisation aufgrund vorgeworfener moralischer und politischer Verfehlungen zu boykottieren und aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen. Auch Kunstwerke, literarische Werke, Theaterstücke und Denkmäler sind Ziel der Zensurbestrebungen. 

Den Woken fehlt es also an Neugier? 

Als junger Student gab es für mich Autoren, die waren politisch so diskreditiert, dass ich sie nicht lesen wollte, und die sollte auch kein anderer lesen. Einer meiner heutigen Lieblingsphilosophen gehörte dazu, Friedrich Nietzsche. Er war der Philosoph der Nazis, ich war folglich nicht neugierig darauf. Glücklicherweise bin ich 20 Jahre später
daraufgekommen, was mir entgangen ist. Nicht, ob sich die Fraktion A gegen die Fraktion B in Bezug auf Denkmal C am Campus durchsetzt, sondern dass woke ideologische Gerüste diese Neugier unterdrücken, ist das Verhängnisvolle. Denn wenn die Generation von jungen Menschen, die an den Universitäten ist, nicht mehr neugierig ist, weil sie alles schon weiß, dann wird es problematisch, denn dann ist die Idee des Fortschritts selbst korrumpiert worden. Ich glaube aber, so viel Kultur kann man gar nicht canceln, dass es nicht immer noch Menschen geben wird, die zu neugierig sind auf das, was gecancelt worden ist. 

Als Kind der 68er, was glauben Sie: Leiten Wokeness und Cancel Culture, deren Einfluss auch in Europa am Wachsen ist, eine neue Weltrevolution ein? Die letzte war ja nicht besonders erfolgreich … 

Das Schöne an Revolutionen ist, dass sie immer scheitern. Das Traurige ist, dass sie meistens Millionen von Opfern fordern, da sollte man also vorsichtig sein. Dafür sehe ich heute aber keine Anzeichen. Dieser berühmte alte Satz „Am Ende frisst die Revolution ihre Kinder“ hat seine Berechtigung. Man merkt schon jetzt, dass die Cancel Culture zu einem inzestuösen Kampf wird. Heute cancelt man nicht mehr die alten weißen Männer, sondern Feministinnen, die nicht die neuen Konzepte von Transsexualität akzeptieren wollen. Das wird irgendwann skurril. 

Sie sprechen auf Kathleen Stock an, die schottische Professorin und lesbische Feministin, die die These vertritt, dass das biologische Geschlecht nicht geändert werden könne, und der folglich Transphobie unterstellt wurde. Ihr wurde gar geraten, Personenschutz zu beantragen, um sich vor den Gender-Aktivisten zu schützen. Stock legte ihre Professur letztendlich freiwillig nieder …

Ja, genau. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass diese woke Bewegung gar keine Revolution machen muss, denn sie ist ja schon im Zen­trum der Macht. Sie wird unterstützt von vielen Medien. Das Verständnis in der Öffentlichkeit für die Anliegen der Woken ist groß. Niemand wagt, wenn irgendein Student bekundet, er wolle nicht, dass der oder die einen Vortrag hält, weil er sich dadurch verletzt fühle, zu sagen: Nein, der Vortrag wird selbstverständlich gehalten, schließlich haben wir dazu eingeladen. Die Woken spüren, welche Macht sie haben. Das ist auf der einen Seite bedenklich, aber auf der anderen Seite auch tröstlich: Denn wer die Macht schon hat, braucht keine Revolution mehr. 

Zuletzt noch einmal zurück zur altersbedingten Nachsichtigkeit. Sie sind auch nachsichtig gegenüber der Cancel Culture? 

Bei all dem hier Besprochenen muss man zugestehen, dass es auch unglaublichen Spaß machen kann zu canceln. Es ist eine Lust, jemandem das Wort zu verbieten, die Macht zu haben, jemanden von einem Sockel zu stoßen. Es ist eine Lust, jemanden zu einem Podium erst gar nicht zuzulassen. So woke kann eine woke Person gar nicht sein, dass sie nicht auch erfüllt ist von diesem Nietzscheanischen
Willen zur Macht.  

BUCHTIPP

„Lauter Lügen und andere Wahrheiten“
von Konrad Paul Liessmann, Paul Zsolnay Verlag,
ISBN 978-3-552-07342-5; € 27,50

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